
(gem)einsam
Helmut spricht uns im Urlaub am Hafen an, als wir gerade auf dem Weg zu unserem Boot waren. Er will wissen, ob wir ihm helfen könnten. Er habe eine Segelyacht, die überwintern solle und bittet uns um Rat. Mein Mann vermittelt den Kontakt zum Yachtbesitzer. Später erfahre ich, dass Helmut vor einem Monat seine Frau verloren hat. Ein paar Tage später treffen wir ihn wieder an der Bar. Er sitzt einen Tisch weiter. Alleine. Wir bitten ihn an unseren Tisch und erfahren, dass er und seine Frau vier Monate im Jahr auf der Segelyacht unterwegs gewesen sind. Bis vor einem Monat. Da ist sie an den Folgen von Krebs gestorben. Er weint ein bisschen. Ich auch. Ich will die Rechnung übernehmen, aber Helmut ist schneller. Und weil ich ihm etwas Gutes tun möchte, lade ich ihn spontan zu uns zum Essen ein. Ein paar Tage später verbringen wir einen schönen Abend bei uns zu Hause. Helmut schreibt hinterher: „Vielen Dank, das hat mir so gutgetan.“
Wir durften für einen Augenblick seiner Einsamkeit eine klitzekleine Pause schenken.
Wir werden ihn voraussichtlich nie mehr wiedersehen, aber durften für einen Augenblick seiner Einsamkeit eine klitzekleine Pause schenken.
Einen Tag später rufe ich meine Mutter an. Wir wohnen 700 km weit entfernt. In Deutschland telefoniere ich drei bis vier Mal die Woche mit ihr. Im Urlaub beschränke ich mich auf zwei Mal wöchentlich. Sie freut sich riesig und meint, sie vermisse diesen regelmäßigen Austausch mit mir. Wieso? Weil ich die einzige bin, mit der sie regelmäßig redet. Meine Mutter lebt in einer selbst gewählten Einsamkeit. Sie war noch nie jemand, der gerne unter Leute ist. Der sich für andere öffnet und die Gemeinschaft sucht. Bis vor drei Jahren hatte sie noch ihren Mann. Seitdem der verstorben ist, ist da niemand mehr. Ein lockerer Kontakt zur ehemaligen Nachbarin besteht. Das war’s. Seit ein paar Monaten lebt sie in einer Seniorenwohnanlage. Einsam. Ich ermutige sie, die Angebote dort wahrzunehmen. Einmal bin ich mit ihr gemeinsam dort in einen Gottesdienst gegangen. Ein anderes Mal habe ich ihr empfohlen, an einem Kaffeetrinken für Senioren teilzunehmen. „Das ist nichts für mich.“, war die niederschmetternde Reaktion. Ich kann das gar nicht fassen. Wieso lebt sie so alleine? Und muss eingestehen, dass es Menschen gibt, die sich für diesen Lebensstil entschieden haben. Also entscheide ich mich, sie weiterhin regelmäßig anzurufen, um ihrer Einsamkeit ein bisschen Abwechslung zu schenken.
Ich habe mich entschieden aufmerksam durch diese Welt zu gehen. Immer auch den Nächsten zu sehen. Ich habe einen große Familien- und Freundeskreis. Doch das, was für mich selbstverständlich ist, gilt ja lange nicht für alle.

Das, was für mich selbstverständlich ist, gilt lange nicht für alle.
Ich tippe eine WhatsApp an Marianne, verabrede mich nach meinem Urlaub zum Laufen mit Karin und nehme mir vor, Petra in der Reha zu besuchen.
Natürlich bin ich nicht dafür verantwortlich, es allen und jedem recht zu machen. Und nein, ich habe auch kein schlechtes Gewissen, wenn meine Mama mal ein paar Tage auf einen Anruf von mir wartet. Ich lade auch nicht jeden Abend alleinstehende Menschen zu mir ein. Ich will mir da keinen Leistungsdruck aufbauen. Aber sensibel sein, wenn Gott mir Begegnungen schenkt. Wenn mir Menschen über den Weg laufen, bei dem die leise Stimme in mir mich an Nächstenliebe erinnert. Mal ist es Helmut, mal meine Mutter, mal Petra. Und vielleicht bin ich es irgendwann einmal, der es guttut, wenn jemand anderes für mich da ist.
Heike Malisic ist Autorin mehrerer Bücher und als Referentin im deutschsprachigen Raum unterwegs. Zusammen mit Beate Nordstrand hat sie das Body-Spirit-Soul-Konzept entwickelt.