
Gemeinschaftsfrüchte
Meine Knie zittern auf der Leiter. Der Plan war, mit den Kindern die nicht benötigten Kirschen vom übervollen Baum in Nachbars Garten zu ernten. So hatte ich mir das allerdings nicht vorgestellt: Meine linke Hand klammert sich verzweifelt am Baum fest, während die rechte versucht, eine Kirsche zu erreichen. Mein Puls rast. Ich habe Höhenangst und die ist berechtigt, denn ich befinde mich immerhin in für mich schwindelerregender Höhe von etwa eineinhalb Metern.
Meine Kinder lachen: „Mama, das ist doch gar nicht hoch!“ Ich spüre, wie jemand hinter mir die Leiter betritt. „Lass mich auch mal!“ Da ich gerade mehr als unentspannt bin, werde ich zuerst panisch, dann sauer. „Runter von der Leiter, weg da!“, raunze ich total unzufrieden, weil sich der Eimer nur sehr langsam füllt. „Das ist so unfair! Nur du darfst!“, maulen die Kinder. „Das ist viel zu gefährlich für Kinder!“, rechtfertige ich meine Unfreundlichkeit. Und ich denke auch, dass es wirklich so ist.
Von rechts oben dringt jetzt die Stimme meines siebenjährigen Sohnes zu mir: „Mama! Ich habe eine Kirsche!“ Ich stutze. Wie ist der da hochgekommen? „Halt dich fest!“, rufe ich und sehe zu, dass ich wieder festen Boden unter den Füßen habe. Mein Magen fühlt sich flau an. Ich brauche eine Pause. Unten angekommen sehe ich, dass mein Sohn die Strickleiter hochgeklettert ist, die im Baum hängt. Ich zitiere ihn nach unten und betrete selbst die Strickleiter. Auf Stufe vier scheitere ich. Das Teil dreht sich unter meinem Gewicht und mir bleibt vor Schreck fast das Herz stehen. Nicht auszudenken, wenn ich jetzt fiele! Ich schaue nach unten und bin ernüchtert: Ich befinde mich wieder nur einen Meter über dem Boden und mache mir fast in die Hosen vor Angst.
Mein Sohn lacht. Zu Recht. Ich bin frustriert und will aufgeben. Kirschen braucht schließlich kein Mensch. Meine fast neunjährige Tochter mischt sich jetzt ein: „Mama, bitte, lass es mich versuchen! Ich klettere rauf und du hältst die Leiter fest!“ Na gut. Einen Versuch ist es wert. Ich gebe mein okay. Flink wie ein Eichhörnchen huschen die nicht mal dreißig Kilo Lebendgewicht an mir vorbei bis zur obersten Sprosse. „Gut festhalten!“ rufe ich und verbiete der Helikopter-Mutter in mir, Bedenken zu äußern. Meine Kinder erteilen mir gerade eine Lektion, die sich gewaschen hat. Während die Kirschen von oben in den Eimer in meiner Hand fliegen, sehe ich ein, was unvermeidlich ist: Meine Kinder sind mutiger als ich.

„Meine Kinder erteilen mir gerade eine Lektion, die sich gewaschen hat.“
Der Siebenjährige reißt mich aus den Gedanken, indem er seinen Unmut kundtut: „Sie darf in den Baum und ich nicht! Ich habe zuerst gefragt!“ Leider hat er recht. Als an der Stelle nichts mehr zu holen ist, stelle ich die Leiter an einen erfolgversprechenderen Ast. Jetzt darf mein Sohn. Anfangs etwas zögerlich, aber entschlossen, steigt auch er bis fast oben hin. Ich recke den Eimer zu ihm hin, der inzwischen schwer wird. Meine Tochter ruft: “Mama, hierher!” Sie hat nebenbei den Strickleiter-Weg gewählt und sitzt jetzt putzmunter in der Baumkrone. Dabei reckt sie mir stolz eine Hand voller Früchte entgegen. Weil ich nur einen Eimer habe und die Leiter festhalten muss, kommt jetzt Sohn drei ins Spiel. Der Vierjährige sammelt alles auf, was seine große Schwester zu ihm runterwirft und bringt es in den Eimer. Der ist inzwischen so schwer, dass mein ausgestreckter Arm zu zittern beginnt.
Nach nur ca. 20 Minuten haben wir genug. Sehr zur Enttäuschung des Jüngsten, der auch noch pflücken will. „Wenn’s sein muss“, sage ich und erlaube auch ihm den Aufstieg, nachdem sein Bruder Platz gemacht hat. Nach wenigen Sprossen will er zurück. Er weint. „Ich wollte so gerne auch für uns Kirschen pflücken!“ Ich schnappe mit den Fingerspitzen einen Ast, an dem genau eine Frucht hängt und biege sie zu ihm runter. Er nimmt sie. Als er sie in den Eimer wirft, platzt der Vierjährige beinahe vor Stolz.
Auf dem Weg nach Hause wiegt die Denkaufgabe in meinem Kopf deutlich schwerer als der Eimer in meiner Hand. Drei glückliche Kinder hüpfen vor mir her. Ich bin stolz auf sie und enttäuscht von mir. Nur weil ich der Meinung gewesen war, dass Kinder keine hohen Bäume raufklettern sollten, (weil ICH Höhenangst habe!) wäre mir fast eine große Entdeckung entgangen: Wenn ich anderen etwas zutraue, können wir gemeinsam etwas erreichen. Wieso war ich so vermessen, zu denken, es sei einfach, über die Strickleiter in den Baum zu kommen, weil mein Nachwuchs das kann? Zum Glück bin ich gescheitert. Denn hätte ich weiter versucht, meine Kinder vom Klettern abzuhalten, hätte dieser Nachmittag nichts als Frustration, Verspannungen und Streit gebracht

„Wenn ich anderen etwas zutraue, können wir gemeinsam etwas erreichen.“
Schon oft habe ich davon gehört, dass Gemeinschaft dann am meisten Frucht bringt, wenn jeder seine unterschiedlichen Begabungen einbringt. Was das bedeutet, haben mir meine Kinder heute gezeigt. Ich muss nicht selbst krampfhaft versuchen, was mir nicht liegt. Ich glaube, Gott hat jedem Menschen besondere Begabungen gegeben. Es liegt an mir, dafür offen zu sein und sie zu unterstützen. Wenn ich einsehe, dass ich Hilfe brauche, kann ich mehr erreichen. Nebenbei zeige ich anderen, dass sie gebraucht werden. Wenn ich jemand anderem den Aufstieg ermögliche, muss ich nicht selbst hoch hinaus. Wenn jeder das beiträgt, was er gut kann, trägt Gemeinschaft Frucht. Das gilt für Familien, Firmen sowie Interessensgemeinschaften. Manchmal ist es wichtig, die Leiter zu halten und anderen Sicherheit zu geben, um Anteil an der Ernte zu haben. Ganz nebenbei stärkt das ihr Selbstvertrauen.
„Ich muss nicht krampfhaft versuchen, was mir nicht liegt.“
Das frisch Gelernte setze ich zu Hause gleich um. Der Plan war, die Ernte in Kirschmarmelade umzusetzen. Dafür fehlt mir jedoch die Zeit. Mein Mann bietet an, den Part zu übernehmen. Da Kochen nicht zu seinen Kernkompetenzen gehört, denke ich an ein Nein, sage aber: „Das wäre großartig!“ Nach dem Erlebnis im Baum bin ich bereit, für die nächste Erkenntnis: Echte Gemeinschaft bedeutet auch, anderen die Früchte der eigenen Arbeit anzuvertrauen.
In meinem Fall hat es sich gelohnt: Die Marmelade ist sehr lecker geworden.
Ramona Eibach ist verheiratet und Mutter von drei Kindern. Sie arbeitet als Pressereferentin bei Wycliff Deutschland. In ihrer Freizeit sucht sie ihre Herausforderung lieber in Texten und Sport, als in luftigen Höhen.