Das kleine Glück

Wenn wir vom Glück sprechen, denken wir meist an die großen Dinge: Gesundheit, beruflicher Erfolg, Lottogewinn, die Traumhochzeit mit dem perfekten Gegenüber und vieles andere mehr. Die Wahrscheinlichkeit, dass all das im Leben auftritt ist eher gering – dass es dauerhaft als beglückend empfunden wird auch.

Es wäre ziemlich tragisch, wenn Glück nur im großen Stil stattfinden könnte. Wir würden unser ganzes Leben einem Idealzustand nachjagen und dabei das kleine Glück übersehen. Bei all dem, was uns in unserer Gesellschaft an Idealen und erstrebenswerten Zuständen kommuniziert wird, ist es nicht leicht auch kleine wertvolle Momente als glückliche Erfahrungen wahrzunehmen. Das erfordert tatsächlich ein ganzes Stück Übung.

Kinder sind hierbei absolute Vorbilder. Sie sind Meister des Glücksempfindens im Kleinen und Unscheinbaren und sie bleiben nicht an dem haften, was gerade schief gelaufen ist, sondern richten ihren Blick interessiert auf das nächste Ereignis. Wir können keine Kinder mehr werden – aber dennoch Strategien erlernen, die uns dieses kindliche Empfinden wieder näher bringen.

Kerstin Hack - Autorin, Verlegerin und Coach und Momente-Liebhaberin gibt Impulse für mehr Glücksempfinden im Alltag:  

Mehr Glücksmomente erleben

Unser Gehirn merkt sich erste Male immer, weil es gierig darauf ist, Neues zu erfahren – erste Male als etwas Besonderes hervorzuheben, trägt dazu bei dass wir sie uns merken und so für spätere gleichartige Erlebnisse gut gerüstet sind. Das gilt in gleichem Maß für negative Ersterlebnisse. Der erste Säbelzahntiger oder Autofahrer, dem wir gerade noch entronnen sind, bleibt uns intensiv im Gedächtnis – wir schützen uns künftig vor ähnlichen Erfahrungen.

Weil das Gehirn uns auf die Zukunft vorbereiten will, überschüttet es uns bei ersten Malen ja nach Situation mit Glücks- oder Stresshormonen. Ich nutze die Eigenschaft des Gehirns, mich mit Glückshormonen zu überschütten, wenn ich etwas Positives zum ersten Mal erlebe, schamlos aus.

Das mache ich, indem ich einen Trick anwende. Ich lasse mein Gehirn wissen, dass ich bestimmte Dinge zum ersten Mal erlebe – zumindest an diesem Tag. „Gerade sehe ich den ersten Sonnenaufgang des Tages!“, „Jetzt dusche ich mich zum ersten Mal!“, „Das ist der erste Kaffee des Tages!“ Dem Gehirn ist es egal, ob das erste zugleich auch das letzte Erlebnis dieser Art an diesem Tag ist. Es hört nur das Stichwort „das erste“ und beschenkt mich mit Dopamin und Gefühlen, die sich sehr angenehm anfühlen.

Nur so `ne Idee

Achte in den nächsten Tagen darauf, was du an diesem Tag zum ersten Mal erlebst. Genieße es besonders intensiv.

Die andere Perspektive – Geschichten gehen weiter

Menschen sortieren Erlebnisse oft schnell in Kategorien: „Das war gut.“ Oder: „Jenes war schlecht.“ Das ist ein verständliches Verhalten. Doch das schnelle Einordnen führt auch dazu, dass gelegentlich unser Denken und unsere Perspektiven eingeschränkt werden, In Coaching-Kreisen wird deshalb oft eine Geschichte erzählt, welche die Perspektive weiten kann. Sie hat mein Leben geprägt und entlastet. Deshalb erzähle ich sie gern weiter.

„Es war einmal ein Bauer in China. Er war arm, aber er besaß sieben wunderschöne Pferde. Sie waren sein ganzer Stolz. Eines Abends ließ sein etwas tollpatschiger Sohn versehentlich das Gatter offen. Die sieben Pferde verschwanden. Die Nachbarn hörten davon und sagten zu dem alten Bauern: ,Welch ein Unglück hat dich getroffen.' Er antwortete lächelnd: ,Ein Glück oder ein Unglück, wer will es sagen? '

Siehe da: Nach zehn Mondnächten kamen die Pferde zurück und brachten sieben Wildpferde mit. Die Nachbarn sahen die wunderschönen Tiere und sagten: ,Welch ein Glück hat dich getroffen.' Er lächelte nur und sagte besonnen: ,Ein Glück oder ein Unglück, wer will es sagen?'“

Wir sehen nicht alles

Mir hilft diese Geschichte, gelassener zu reagieren, wenn etwas geschieht, was ich als Unglück empfinde: Ein Zug hat Verspätung, eine Mitarbeiterin hört auf, die Steuer fällt höher aus als erwartet. Manche Katastrophen werden zu Wendepunkten. Bei mir war der schmerzhafte Verlust eines Arbeitsplatzes die Tür, durch die ich in das gestoßen wurde, was ich jetzt tue.

Ein Bekannter erzählte mir von einem Mann mit einem großen Herzen für soziale Nöte. Das Problem: Sein Vater wollte ihn als Nachfolger seines Unternehmens haben. Als der Sohn seiner Berufung in den sozialen Bereich folgte, enterbte ihn der enttäuschte Vater. Später geriet der Konzern in eine Krise. Die Geschwister erbten Millionen - von Schulden. Der älteste Sohn lebt seine Berufung weiterhin - ohne Schuldenlast.

Ich plädiere nicht dafür, Schmerz einfach mit einem „Es wird schon sein Gutes haben“ wegzulächeln. Es ist gesund und heilsam, die Emotionen, die mit einem empfundenen Unglück kommen, zu empfinden und auszudrücken: Wut, Trauer, Enttäuschung, Scham und vieles mehr. Ich plädiere stark dafür, in der Beurteilung einer Situation viel Weite zuzulassen. Es fühlt sich schlimm an. Doch womöglich öffnet das Türen. Womöglich hat ein guter Gott einen größeren Plan.

So wie bei der biblischen Figur Josef - einem Teenagerjungen, der nach einem Streit von seinen Brüdern in die Sklaverei verkauft wurde. Im Haus eines einflussreichen Politikers lernte er die Grundlagen effizienter Verwaltung. Im Gefängnis lernte er den Umgang mit unterschiedlichsten Menschen. Er erwarb so Fähigkeiten, die später unzähligen Menschen das Leben retteten - auch seiner eigenen Familie. Er fasst die Geschichte seines Lebens so zusammen: „Menschen hatten vor, es böse zu machen. Gott hatte den Plan, es gut zu machen.“

Mit einer Katastrophe ist unser Leben meist noch nicht am Ende. Situationen entwickeln sich. Keiner kann hinter die nächste Kurve sehen. Es kann entlasten und Offenheit für positive Entwicklungen schenken, wenn wir das anerkennen: „Ist es gut oder schlecht - wer will es sagen?“

Lesenswert:

Kerstin Hack: „Das gute Leben“. © 2017 Down to Earth

Quellenhinweis: Kerstin Hack: „Das gute Leben“. © 2017 Down to Earth, www.down-to-earth.de ISBN 978-3-86270-961-8. Mehr über Kerstin Hack https://kerstinhack.de/