Der Klang des Lebens

Ein satter dunkelroter Ton

Frischer Schnee knirscht unter den Füßen. Die Bäume ringsum kahl. Die Wintersonne verbreitet ihr von Nebel und Ästen gedämpftes Licht. Martin Schleske legt prüfend seine Hand an den Stamm einer Fichte. Der 45-Jährige sucht den „Sängerstamm“, einen, dessen Holz treffend klingt.

Schleske baut Geigen. Er ist Meister darin, betreibt seit 1996 sein eigenes Atelier bei München. Das „gute Holz“ dafür zu finden, ist eine wesentliche Voraussetzung.
Die Holz-Einzelteile nimmt er mit in sein Atelier. Wo die anspruchsvolle handwerkliche Feinarbeit beginnt. Schleske entwickelt den Umriss, sticht mit langen Stecheisen die Wölbung. Immer achtet er dabei auf den Faserverlauf im Holz, der individuell verläuft, klopft mit den Fingern die Eigentöne des Holzes ab, feilt, beitelt. Und bearbeitet das neu entstehende Instrument mit eigens gekochten Lacken und Ölen. Was der Geige optisch und ästhetisch seinen Charakter gibt.

Und ihre eigene „klangliche Handschrift“. Wenn er über das Klangerlebnis seiner Geigen spricht, gerät er ins Schwärmen. Spielt man auf der tiefsten, der G-Saite, hat das „etwas unglaublich Befriedigendes“ findet er; es entsteht ein „satter voller dunkler Ton, ein dunkelroter Klang, in den man sich richtig reingraben kann“, um schreibt Schleske. „Formt man auf dem Instrument den Ton auf der G-Saite, ist das wie das Gefühl, wenn man in frisch gefallenem Schnee läuft, mit diesem einzigartigen Knacken unter den Füßen.“

Dieses Erlebnis vermittelt und teilt er mit seinen Kunden. Ganz individuell geht er auf sie ein, die Berufsmusiker und „ambitionierten Laien“, die ihn in seinem Atelier aufsuchen. Jede dieser Geigen baut Schleske „persönlich auf den Kunden hin“. Denn das Instrument ist für einen Musiker mehr als das: „Es ist wie ein Teil seines Körpers, wie seine eigene Stimme.“ Und die Kunst des Geigenbauers besteht darin, „diesem Menschen eine Stimme zu geben, mit der er sich ausdrücken kann“.

Die Werkbank ist ein Lehrer fürs Leben

Ein starkes „Einfühlungsvermögen“ ist dafür nötig, das „Hören lernen die wichtigste Kunst eines Geigenbauers“. Es braucht eine unerhörte Sensibilität, nicht nur für das Holz, für die Geige – auch für den Künstler, der das Instrument später einmal spielen soll. „Ich muss als Geigenbauer auch die Menschen einschätzen können“, erläutert Schleske. Wohl auch deshalb entdeckt er zahlreiche Parallelen zwischen dem Bau von Geigen und dem Leben überhaupt: „Die Werkbank ist ein starker Lehrer“, sagt er mit einem Lächeln. Etwa, wenn er trotz stundenlanger Filigranarbeit erkennt: „Die perfekte Geige gibt es nicht.“ So wenig wie ein „perfektes“ Leben. Lieber spricht Schleske von „Vollkommenheit“, die das „im Schöpfungsakt Gegebene“, das Vorhandene berücksichtigt und sich daraus entfaltet – wie der Faserverlauf im Holz zum Beispiel, der einen „Drehwuchs“ aufweist und eben nicht in schnurgerader Linie verläuft.

So ist eine „vollkommene“ Geige ein Instrument, das die Kraft hat etwas auszustrahlen, andere Menschen zu berühren – und zwar mitsamt allen Macken und ungeraden Linien. Ganz so wie das Leben. Und wunderschön.

So bringen Geigen Schönheit im Menschen zum Klingen und viel Tiefe zum Ausdruck. Der höchste Sinn des Daseins, so drückt Martin Schleske, ganz Künstler, seine innere Überzeugung aus – er besteht darin, selbst zu einem Instrument zu werden, durch das ein klarer Ton hindurchtönt: der Ton des Schöpfers. Was ist hörbar durch mein Leben? Was klingt durch mich hindurch in die Welt? „Die Antworten, die ich darauf gebe, die sind das, was mich zur Person macht“, sagt Schleske.

Jörg Podworny

Quelle: Aus lebenslust 3/2010, SCM-Bundesverlag (Link), Witten