
Lebensentdeckungsreisen in der Natur
In ihrer größten Lebenskrise hilft Anne-Maria Apelt eine Visionssuche in der Natur. Heute begleitet sie selbst Menschen in die Natur hinein. Damit sie dort Antworten auf ihre Lebensfragen bekommen.
Anne-Maria, was ist der erste Gedanke, wenn du an Natur denkst?
Der schönste Ort – fragil und wunderbar.
Viele Menschen suchen sich Rat bei einem Coach oder einer Therapeutin. Du bietest Entdeckungsreisen in der Natur an. Warum gerade in der Natur?
Die Art und Weise, wie ich zu dem Erfahrungsraum Natur einlade und die Türen dafür öffne, unterscheidet sich von vielen anderen Beratungsansätzen. Ich bin eine Mittlerin. Die Natur selbst ist die Beraterin, die Therapeutin, der Coach. Ich erlebe die Natur als unbestechlich, wahr und heilsam. Als spirituelle Person würde ich auch sagen: daher kommen göttliche Antworten auf meine Fragen.
Ich bin eine Mittlerin. Die Natur selbst ist die Beraterin, die Therapeutin, der Coach.
Heißt: Du machst weder Beratung noch Therapie. Das übernimmt ganz die Natur. Du rahmst und begleitest den Prozess …
Richtig. In der Natur ist es nicht möglich, Einfluss und Kontrolle auf jemanden auszuüben, ohne dass es offensichtlich wird, dass man sich selbst belügt. Ich in meiner Rolle bin die Brücke, die Tür, die Übersetzerin. Ich verstehe mich auch so, Kraft meiner Erfahrungen, meines Wissens, meiner eigenen Verbindung zur Natur. Das bedeutet vor allem: selber immer wieder Erfahrungen zu machen mit der Natur.
Wie öffnest du die „Tür zur Natur“?
Vom Ursprung her sind es Naturrituale. Die Rituale sind eine alte Tradition, die ich in unsere moderne Welt hineinübersetze. Ich nenne sie Lebensentdeckungsreisen.
Was genau bedeutet Ritual?
Vor allem: Raum mit fester Form und Bedeutung. Zähneputzen wäre kein Ritual für mich, nur weil es sich täglich wiederholt. Da spreche ich eher von Routine. Und eine tiefe spirituelle Bedeutung hat das Zähneputzen eigentlich auch nicht, sondern dient der Körperpflege. Naturritual bedeutet in dem Sinne: eine Zeit mit Form und Bedeutung in der Natur. Ich lasse mich in einen Raum führen, mache eine Erfahrung und verlasse den Raum wieder.
Wie sieht das konkret aus?
Jedes Format und Ritual sieht anders aus und hat andere Rahmen. Aber drei Phasen sind immer gleich:
- Ich löse mich ab von meinem Alltag.
- Ich betrete die Natur auf heilige, besondere Weise und begegne ihr.
- Ich komme zurück und übe die Integration dessen, was ich erlebt und erfahren habe.
Was genau passiert hängt von den Menschen und ihren Anliegen ab, von den Jahreszeiten, von den natürlichen Gegebenheiten. Eine eintägige Erfahrung ist anders als vier Tage oder zwölf Tage. Eine Entdeckungsreise am Meer ist anders als in den Bergen. Eine Erfahrung mit einem bestimmten Fokus (z. B. Feuer oder Kunst) ist anders als eine Themenoffenheit. Sicher ist, dass die Menschen mit ihren Fragen in Kontakt kommen werden. Das kann als Einzelformat oder auch als Gruppenformat geschehen.
Warum brauchen wir als Menschen Rituale?
Weil wir Fragende und Suchende sind, uns nach Antworten sehnen, nach neuer Kraft. Weil wir uns im tiefsten Herzen nach Angenommensein, Verbundenheit sehnen. Darum brauchen wir Rituale, denn sie betten uns ein in das „große Ganze“.

Wer kommt zu dir?
Menschen aus allen Lebensbereichen und Altersgruppen. Es sind Menschen an den Bruchstellen ihres Lebens in existenziellen Situationen, in großen und kleinen Veränderungen: Trennung, Tod, Heirat, Geburt, Abschied, neuer Beruf – all das können Gründe sein. Meistens geht eine Lücke oder Frage dem Ritual voraus, so was macht man nicht einfach mal so. Ein Umbruch oder eine Krise kann jederzeit im Leben vorkommen, ob man 20 ist oder 80 ist. Meistens kommen Menschen an den typischen Wendepunkten des Lebens oder es stehen Lebensentscheidungen an, die geklärt werden wollen.
Warst du schon immer ein „Naturmensch“ – oder bist du erst im Laufe des Lebens einer geworden?
Da ich auf dem Land aufgewachsen bin, könnte man meinen, ich wäre schon immer ein Mensch mit starken Bezügen zur Natur gewesen. Der Wahrheit entspricht mehr, dass ich als Kind eine sehr starke Verbindung zur Natur hatte und diese mit Eintritt in die Schule und das „wahre Leben“ verlor.
Kannst du sagen, woran das lag?
Das Erwachsenwerden lässt uns immer mehr Bezug nehmen auf die Dinge, die wir als Menschheit für erstrebenswert halten: Bildung, Geld, Anerkennung durch Leistung. Überhaupt: Alles wird geprägt durch ein enormes Leistungsprinzip. Dies hat bei mir auch dazu geführt, dass ich mich von der Natur, dem Ort, an dem ich mich heimisch und angenommen gefühlt hatte, mehr und mehr entfernte, weil er nicht viel mit der Welt der Erwachsenen zu tun hat.
Und das ist sicher nicht nur deine Erfahrung …
Ja, in meinem Berufskontext erlebe ich, wie Menschen von einer großen Sehnsucht sprechen, dieser Natur-Entfremdung entgegenwirken zu können. Ich beobachte inzwischen, dass wir gerade eine Generation prägen, die sich des Verlustes im Kontakt mit der Natur zunehmend nicht mehr bewusst sein wird. Die, die vor den 1990ern geborenen wurden, können an diese Kindheitserfahrung der Verbindung und Sehnsucht unter Umständen anknüpfen, aber es wächst eine Generation heran, die schon zu großen Teilen keine Bezüge zur Natur in der Kindheit herstellt.
Wie wurde Natur wieder wichtig für dich?
Meine Wiederverbindung kam erst durch eine existenzielle Krise als Erwachsene, als ich nicht mehr weiterkam in dem Leistungsprinzip von „schneller, höher, weiter“. Da kam nach langer Durststrecke der Trost, die Verbindung, die Annahme in der Natur wieder. Zu dem Zeitpunkt lebte ich in der Stadt und hatte mich maximal von meinen kindlichen Erfahrungen entfernt. Dann begann ein Heilungsprozess und die Annäherung an die Natur. Als Naturmensch würde ich mich vermutlich dennoch nicht bezeichnen.
Warum?
Das scheint inzwischen ein Begriff vor allem für Menschen zu sein, die Outdoor-Aktivitäten, Sport in der Natur, etc. betreiben. Das tue ich meistens alles nicht, wenn ich in und mit der Natur bin. Ein guter Begriff fehlt mir dennoch. Aber ja: Ich bin gern Mensch in der Natur.
Gibt es ein Kernthema bei den Entdeckungsreisen?
Eine meiner Hauptfragen meines Lebens war immer, wofür ich auf der Welt bin. Mein tiefster Wunsch ist – bis heute – gemeinsam mit Menschen Antworten auf diese Frage zu bekommen. Was könnte der Sinn und die Bestimmung meines Lebens sein? Welche Gaben, Charakter und Wesenszüge prägen mich? Zeit meines Lebens trage ich dazu Antworten zusammen. Ich erzählte eben von meiner verlorenen Naturverbindung. Als ich an dem bisher tiefsten Punkt meines Lebens nicht weiter wusste, half mir der rituelle Gang in die Natur.
Ich hatte alles verloren: Job, Orientierung, Glauben, Beziehung, Netzwerke.
Wie genau?
Zunächst einfach so, dann auch durch geführte Beratung in der Natur und große Formate der Prozessbegleitung. Am meisten haben mich die geprägt, in denen ich mich über den Verstandeshorizont in die Erfahrungsebenen begeben habe. Allen voran die Erfahrung der Visionssuche.
Du hast also Bruch und Lebenskrise ganz persönlich erlebt …
Genau. Es ging nicht mehr vorwärts noch rückwärts. Ich hatte alles verloren: Job, Orientierung, Glauben, Beziehung, Netzwerke. Alle Pläne waren nicht aufgegangen und ich war weit davon entfernt eine Antwort auf die Frage zu finden, wofür ich auf der Welt bin.
Und dein persönliches Natur-Erlebnis hat das verändert?
Ohne Zweifel: ja. Ich durfte an einem alte Ritual, der Visionssuche, teilnehmen. Mich 14 Tage lang meinen Fragen widmen, vier Tage und vier Nächte davon allein in der Natur sein – zurückgeworfen nur auf mich, ohne Hilfsmittel. Die Natur und ich. Gott und ich – oder das, was ich bis zu dem Zeitpunkt davon hielt. Die Natur als Buch vor mir, in dem ich begann zu lesen, meine Angst zu sehen, mich auszuhalten, meine Grenzen zu akzeptieren, meine Möglichkeiten wertzuschätzen. Ich kann nur sagen, das war das Beste, was ich gemacht habe. Die Auswirkungen habe ich erst im Verlauf des Jahres danach so richtig zu fassen bekommen.

Gott, Glaube: Was hat das mit deinen Naturerlebnissen zu tun?
Gott zeigt sich allezeit in allen Dingen. In der Schöpfung zeigt sich Gott, die Geistkraft immens. Die Geistkraft offenbart sich. Man könnte sagen, die Natur ist die erste Offenbarung Gottes. Und wenn ich mich selbst als Natur begreife – und man gleichzeitig nun Natur als einen Ort begreift, an der sich Gott offenbart – , kann Gott sich in mir offenbaren – das ist für mich folgerichtig. Insofern hat Gott nicht nur was mit Naturerlebnissen zu tun – er ist ein Naturerlebnis.
Wenn ich Natur als einen Ort begreife, an dem sich Gott offenbart, kann Gott sich in mir offenbaren.
Inzwischen gehören dein Job und die Natur sozusagen zusammen. Wie kam es zu diesem Schritt?
Das ist eine schwere Frage, wenn es um eine Berufung geht. Sie war nach allen Irrwegen und allen Versuchen, einen Ort der Selbstwirksamkeit zu finden, plötzlich da. Das heißt ja nicht, dass ich mich zu hundert Prozent sicher gefühlt habe und glasklar vor Augen war, was das auch für mich bedeuten würde, wie: mich selbstständig zu machen, aufs Land zu ziehen – mit allen Höhen und Tiefen, insbesondere in der Corona-Pandemie. Es war als Ruf da: Begleite Menschen auf diese Art. Führe sie in die Naturverbindung. Dies wird der Erfahrungsraum sein für ihre Seele, als Wirkraum für die Geistkraft. Und dann musste ich mich erst einmal beruflich komplett neu auf den Weg machen – und bin es immer mal wieder.
Gibt es auch herausfordernde Momente in deiner konkreten Arbeit?
Manchmal gerate ich in unangenehme Situationen, beispielsweise, wenn Menschen von mir Allheilmittel erwarten, dass ich sie retten möge oder so etwas in der Art. Das kann ich natürlich nicht. Meine Aufgabe ist es, den Raum zu öffnen und zu spiegeln, was sich in der Natur, in der Geistkraft zeigt. Diese Unbestechlichkeit ist auch das, was die Natur so einzigartig macht und sich sonst kaum irgendwo zeigt. Darum erfordert es auch unfassbar viel Mut, sich in diesen Raum hinein zu begeben. Das ist kein Kinderspiel oder Spaziergang oder fluffige Achtsamkeitsübung nach dem Mittagessen.

Deine Natur-Auszeit
- Geh hinaus in die Natur – Garten, Stadtpark, Wald, Wildnis.
- Geh absichtslos, allein und ohne Ablenkung.
- Gestalte dir bewusst einen Anfang und ein Ende, z. B. durch Innehalten.
- Während der Auszeit: Lass die Geistkraft selber sprechen durch die Natur. Mach dein Herz dafür auf. Fühle, beobachte, spüre, ertaste, berühre, wie die Geistkraft in der Natur spricht und ist. Frage in den heiligen Raum hinein, wie es geschieht, dass etwas Neues entsteht und wächst. In der Natur und in deinem Leben.
- Bringe nach Ende der Auszeit deine Gedanken zu Papier, teile sie mit einer Person des Vertrauens oder gestalte etwas dazu.
Denkst du, dass wir heutzutage den Bezug zur Natur verloren haben? Falls ja, wie können wir das ändern?
Ich glaube, wir leben an einem entscheidenden Wendepunkt unser Menschheit. Wir haben die Möglichkeit zu fliehen – und alles laufen zu lassen wie bisher oder uns dem zu stellen, dass wir in unser Allmachtsphantasie den Bogen überspannt haben. Ich teile nicht die Ansicht, dass wir Menschen die sogenannte Krone der Schöpfung sind. Wir sind nur die Einzigen mit der Fähigkeit, uns selbst gründlich und wissentlich auszulöschen. Was dem entgegensteuern kann ist zu begreifen, dass wir in Wahrheit nicht beherrschen können, sondern stattdessen: dass wir nach allen Kräften vernichten, was Lebensgrundlage ist. Wir brauchen die Erkenntnis, dass wir ein Teil des Ganzen sind. Und die Demut anzuerkennen, dass wir ein Teil eines Ganzen sind. Das kann dann dazu führen, dass wir Leistungsdenken, Konsumverhalten und das Recht auf Genuss hinterfragen und umdenken. Merken Sie gerade selbst, wie schwer es ist, sich diesem neuen Denken anzunähern?
Eine andere Sache ist die: Wann hatten Sie das letzte Mal zweckfreie Zeit? Vielleicht sogar in der Natur? Wann hatten Ihre Kinder dies? Ich glaube, dass Zweckfreiheit uns wieder Anbindung schenkt. Nicht „um zu“, sondern einfach weil wir Menschen sind. Darin liegt für mich ein Schlüssel.
Ich bin gerade gestresst, möchte raus, hab aber nur kurz Zeit. Hast du Tipps, wie ich mit wenig Aufwand in der Natur entspannen kann?
Dazu gibt es kein Patentrezept. Denn das wäre wieder „um zu“. Ich gehe eben mal schnell in die Natur, um wieder nicht gestresst zu sein, um wieder weiter leisten zu können, um runter zu kommen. Ich glaube, da gibt es schon viele gute Erfindungen, die Stress mindern, doch das ist nicht das, was ich meine, wenn ich von Naturerfahrungen und Verbundenheit spreche.
Falls sich jemand fragt: Ist das nicht vielleicht etwas abgehoben oder gar esoterisch? Was antwortest du da?
Diese Frage offenbart vor allem eine Beurteilung meiner Arbeit oder der Traditionen, in denen ich stehe. Mir fällt viel ein, was man dazu sagen könnte, aber hier will ich sagen: Komm und sieh selbst.
Viele solcher Erfahrungen habe ich in meinem Buch „Grüne Wunder erleben“ (adeo Verlag) aufgeschrieben. Dort erzählen die interviewten Menschen auch, wie Gott ihnen begegnet ist.
Wie oft schaffst du es heute, in die Natur zu gehen?
Ich bin jeden Tag draußen. Manchmal im Garten, manches Mal aber auch selbst im Ritual. Einmal in der Woche nehme ich mir einen Tag außerhalb der Arbeit auf dem Land, auf dem ich lebe, Zeit, um mich zu verbinden und gehe zweckfrei in die Natur. Einmal im Jahr versuche ich selbst einige Tage in einem Ritual draußen in der Natur zu sein.

Anne-Maria Apelt ist Jahrgang 1981 und lebt im Spreewald. Seit 2015 ist sie freiberuflich tätig als Naturritual- und Visionssucheleiterin sowie Wildnispädagogin und Autorin. Weitere Infos zu den Angeboten unter lebensentdeckungsreisen.de

Ihr Buch:
Anne-Maria Apelt
Grüne Wunder erleben
www.adeo-verlag.de