Innere Balance

Wie wir im Gleichgewicht bleiben

Tausende Zuschauer halten den Atem an, als der 34-Jähringe Artist Nik Wallenda das dünne Drahtseil betritt, um von der amerikanischen Seite der Niagarafälle auf die kanadische Seite hinüberzubalancieren. Millionen an den Fernsehgeräten. Fünfundzwanzig Minuten von höchster Konzentration benötigt Wallenda für die Strecke von 549 Metern, denn Wind und Nebel erschweren das Vorhaben. Das unerlässliche Hilfsmittel ist sein Balancierstab.
Unser Leben ist auch oft ein Akt der Balance. Unspektakulär, nicht medienwirksam und doch eine echte Herausforderung. Der Versuch, Familie, Beruf, Gesundheit und Freizeit unter einen Hut zu bekommen, was manchmal unmöglich scheint. In der Symbolsprache könnten wir den Zustand so beschreiben: alle Bälle in der Luft jonglieren und gleichzeitig per Drahtseilakt unterwegs sein – Schritt für Schritt.

Unsere Lebensaufgaben

Was können wir nun selbst beisteuern, um sinnvolle Weichen für ein ausgeglichenes Leben zu stellen? Verschiedene Modelle sind möglich. Ich möchte ein Modell vorstellen, das die zentralen Lebensbereiche beschreibt, in denen sich jeder und jede zu bewähren hat. Angestoßen wurde das Modell von Alfred Adler, dem Begründer der Individualpsychologie. Ich empfinde es als überaus hilfereich und auch in meiner Beratungstätigkeit hat es sich bewährt. Adler nannte anfangs drei soziale Lebensaufgaben. Er sah in Liebe, Arbeit und Gemeinschaft die grundlegenden Bereiche für das Leben jedes Einzelnen und das gute soziale Zusammenleben. Seine Schüler fanden zwei Ergänzungen hilfreich. Sie stellten zwei Lebensaufgaben daneben, die sich mit uns selbst beschäftigen: Den guten Umgang mit uns selbst und die Frage nach Sinn und Glauben.

Liebe

Die Lebensaufgabe Liebe rückt neben der Partnerschaft die engen familiären Beziehungen in den Fokus, also das Verhältnis zu den Kindern und eigenen Eltern.

Partnerschaft: Hier gilt vor allem: Die Liebe ist nicht die Lösung aller Probleme, sondern eine lebenslange Aufgabe.

Eigene Eltern: Eine gute Beziehung zu den eigenen Eltern hat eine große Auswirkung auf unsere Lebenszufriedenheit. Für den familiären Frieden können wir in jeder Lebensphase mitwirken, z. B. durch Verständnis, Großzügigkeit und die innere Bereitschaft zum Miteinander. Bei anhaltenden Konflikten kann auch Abstand ratsam sein, aber es ist gut, im Inneren eine Tür offen zu halten.

Kinder: Die Beziehung zu unseren Kindern ändert sich in den unterschiedlichen Lebensphasen. Was in der direkten Familienzeit unser Leben bestimmt, darf später in den Hintergrund treten. Natürlich mit der Bereitschaft, für unsere Kinder da zu sein, wenn sie uns brauchen.

Trauer: Auch Trauerarbeit über nie bekommene Kinder, nicht gefundene Partner oder zu früh verstorbene Menschen gehört in die Lebensaufgabe Liebe.

Arbeit

Die Lebensaufgabe Arbeit beschäftigt sich über den Beruf hinaus mit jeder Form der praktischen und kreativen Tätigkeit. Das Engagement im Ehrenamt wird genauso dazugezählt wie Hobbys oder Tätigkeiten in Haus und Hof.

Arbeit dient nicht nur der Sicherung der Existenz. Sie hat auch den Sinn, einen Beitrag zum Zusammenleben aller zu leisten. Wir können das wohltuende Gefühl erleben, mit unseren zur Verfügung stehenden Fähigkeiten und Qualifikationen etwas zustande zu bringen oder geschafft zu haben. Das gilt natürlich ebenso für Hobby und Ehrenamt.

Gemeinschaft

Wir brauchen es unbedingt, mit anderen verbunden zu sein – seien es Freunde, Nachbarn, Kollegen oder die Großfamilie. Auch die Erfahrung, mit anderen Generationen zusammenzuleben, bereichert uns enorm – trotz aller Herausforderungen. Soziale Kompetenzen können nicht theoretisch erworben werden, sondern nur in der Praxis.

Die Gemeinschaft mit anderen Mensen ist ein wesentlicher Halt und die Grundlage für ein zufriedenes Leben. Wenn alles wegbricht, aber jemand noch Freunde hat, kann eine Krise besser überstanden werden.

Ein glückliches Leben ohne Freunde scheint unmöglich zu sein. Die Glücksexpertin und Autorin Maike van den Boom berichtet über ihre Beobachtungen in den 13 glücklichsten Ländern der Erde, die sie besuchte. In den zahlreichen Gesprächen fand sie heraus, dass der eigentliche Reichtum das Zwischenmenschliche ist. Dass Armut nicht bedeutet, kein Geld zu haben, sondern keine guten Beziehungen zu führen.

Selbst

Der gute Umgang mit uns selbst umfasst mehr, als nur auf Gesundheit, Ernährung, Bewegung und Schlaf zu achten. Vor allem, uns selbst mit unseren Bedürfnissen ernst zu nehmen und zu wissen, was uns Freude bereitet. Das grundlegendste Lernfeld liegt darin, wie wir über uns selbst denken. Denn unsere Neigung ist oft groß, ständig auf uns selbst herumzuhacken und uns kleinzumachen. Es ist wichtig, so mit uns selbst umzugehen, wie wir es mit einer guten Freundin, einem guten Freund tun würden.

Sinn/Glaube

Die Lebensaufgabe Sinn/Glaube stellt sich jedem Menschen. Und jeder sucht danach, vielleicht auch eher unbewusst. Was ist der Sinn in meinem Leben? Aus welchem Grund lohnt es sich für mich zu leben? Ohne plausible Antworten auf solche Fragen stellt sich eine existenzielle Leere ein.

Für mich persönlich ist Sinn/Glaube unauflöslich mit dem Gott der Bibel verbunden. Auf diesen Halt möchte ich keinen Tag im Leben verzichten. Der Glaube ist für mich mein Lebensfaden. So wie bei einem Mobile der Hauptfaden. Ist der stabil, können sich die anderen Fäden gut um ihn herum bewegen.

Zu Großem in der Lage

Schauen wir noch einmal auf Nik Wallenda, den Artisten. In einem Fernsehinterview sagte er, dass er mit den waghalsigen Überquerungen Menschen Mut machen möchte. Er will demonstrieren, wozu wir in der Lage sind, wenn wir uns nicht durch Furcht lähmen lassen. Für ihn fordert der Alltag einer alleinerziehenden Mutter oder der Gang durch eine Chemotherapie nicht weniger Mut als die Überquerung eines Seiles in schwindelnden Höhen.

Wallenda benutzt eine überdimensionale Balancierstange bei seinem Drahtseilakt über die Niagarafälle. Auf einen Sicherheitsgurt verzichtet er gelegentlich, die Stange hingegen ist unerlässlich. Ohne sie wäre ein Überqueren unmöglich.

Die Balancierstangen nutzen

Wenn wir das auf unser Leben übertragen, stellen sich die Fragen: Was haben wir zu Verfügung, womit wir uns ausbalancieren können? Gibt es eine Verlängerung unserer natürlichen Möglichkeiten?

Für mich ist es das Gebet. Ich kann meine schwindelerregenden inneren Abgründe und Zustände Gott anvertrauen. Dabei ist das Gebet kein Zaubermittel, sondern es verbindet mich mit Gott. Es hilft, einen klaren Kopf zu behalten, nicht übereilt zu reagieren und innerlich wieder ruhig zu werden.

Weitere Balancierstangen sind für die eine die Musik oder das Lesen guter Gedanken, für den anderen die Gartenarbeiten oder Bewegung an der frischen Luft. Ich möchte dich ermutigen herauszufinden, was deine Balancierstange ist.

Fragen zum Nachdenken:

Stell dir deine Balancierstange im Leben vor. Wie heißt sie und wo liegt sie? Wie kannst du sie noch mehr im Alltag nutzen und einbinden?

 

Stell dir die jeweiligen Lebensaufgaben Liebe, Arbeit, Gemeinschaft, Sinn/Glaube und Selbst als farbige Kreise vor. Welche Farbe und Größe hätten sie jeweils?

 

Was ist deine stabilste Lebensaufgabe?

 

Welche Lebensaufgabe ist angeschlagen? Was kannst du investieren, damit sie stabiler wird?

Gekürzter Auszug aus

Christina Ott

Unvollkommen glücklich

www.francke-buch.de

Christina Ott wohnt in Nürnberg und ist psychologische Beraterin, Supervisorin und Autorin.