
Bewegung nach innen: Entschleunigung einüben
Das Kalenderblatt steht endlich auf Urlaub. Wir wollen nichts verpassen. Also schnell losmarschiert. Unser Hotel und ein einstündiger strammer Fußmarsch liegen schließlich hinter uns. Vor uns breitet sich die Altstadt von Lissabon in ihrer Schönheit aus. Irgendetwas stört dieses Idyll. Wir erblicken eine Menschenschlange und können kaum fassen, was wir sehen.
Ab in die Schlange bewegen – nicht mal eben rasch durchdrängeln
Was wir zu Hause mit Amüsement im Reiseführer gelesen hatten, spielt sich jetzt vor unseren Augen ab. Menschen warten an der Bushaltestelle. Sie stehen dabei in einer Schlange. Akkurat aufgereiht, wie eine aufgefädelte Perlenkette, nur eckiger. In dieser Schlange geht es ruhig und zivilisiert zu. Kein Schubsen, keine rüden Worte, keine fahrige Hektik. Es gibt nur eine ungeschriebene Regel: Hinten anstellen. Im bewegten Alltag sehen die Leute entspannt aus. Sie pausieren. Reden. Machen nichts. Sie scheinen dieses kurze Innehalten zu genießen. Um sie herum tost Straßenlärm und herrscht Trubel. In ihrem Inneren ist der Anhalten-Modus aktiviert.

Anmut beim Warten – so will ich sein
Ich verharre im Staunen. Sie stehen wie in einer Einkaufswagen-Rückgabestation. Kerzengerade. Nur, dass sie keine Stahlkonstruktion umsäumt. Sie scheinen das aus dem Effeff zu beherrschen. Wahre Naturtalente. Ruhige und entschleunigte Menschen. Keine mürrisch dreinblickenden Mienen. Das hat Anmut. So will ich sein, zumindest an diesem einen Samstagmorgen. Eigentlich ist es fast Mittag. In jenen Breitengraden die richtige Zeit für ein Frühstück. Es läuft alles langsamer. Das Café auf dem schicken Vorzeigeplatz „Praca do Comercio“ inmitten Lissabons hat Charme. Menschen frühstücken bei gedrosselter Geschwindigkeit und 24 Grad Außentemperatur.
Ohne Zucken auf den Espresso warten – ignoriert der uns?
Ich bekomme die erste Möglichkeit zum Einüben von Bewegung nach innen serviert. Uns dürstet nach Espresso. Zum Mitnehmen, in einer dickwandigen Porzellantasse. Dazu haben wir uns bis an die Außen-Theke des Cafés bewegt und kurz vorm Tresen eine Vollbremsung eingelegt. Nun stehen wir dort. Wie die Prasser? Verdutzt? Oder einfach innehaltend? Nahm der Kellner schon Notiz davon oder ignoriert er uns? Es ist so, dass er uns nicht so viel Wichtigkeit einräumt. Genau das sollte sich noch als extrem entschleunigend erweisen. Auf dem Boden der Tatsachen verharrend sickert es durch unsere Köpfe, dass wir den Leerlauf einlegen müssen. Wir stehen also einfach da. Die Wärme kriecht durch die dünne Sohle meiner Sandale. Mir ist wohlig warm. Über die Theke hinweg geben wir Zeichen und bestellen irgendwie in die Luft.

In stoischer Vorfreude
Und nun? Dieser Kellner fuchtelt wild und deutet zu einem leeren Tisch. Wir setzen uns nur mit Widerwillen. Wir wollten unsere Bestellung doch mitnehmen. Das am liebsten sofort. Ich sehe ein Pärchen aufstehen, schimpfen und gehen. Denen ging das nicht schnell genug vonstatten. Und der Ober nahm sie auch nicht so wichtig. Bei ihnen hat das Bewegung im Außen erzeugt, sie sind wie wilde Taranteln weggestürmt.
Auf einmal sitze ich ruhig da und lächle. Ein Experiment ist entfacht. Vergnügt warte ich, was der ungehobelte Kellner als nächstes tun würde. Hat er uns verstanden? Naht ein Espresso? Werden wir wie Diebe aussehen, wenn wir uns mit dem Espresso gleich auf leisen Sohlen davonstehlen? Auf die Porzellantasse müssen wir bestehen. Wir wollen am Ufer des Tejo stilecht einen Slow-Espresso trinken, in aller Ruhe.
Wie in Zeitlupe: Langsamer Espresso am Tejo-Ufer
Meine Stirnfalte legt sich, die Anspannung löst sich. Ich lächle in mich hinein, warte und beobachte. Unser Kellner winkt uns zu sich. Handwerklich geschickt brüht er am Freiluft-Tresen vor unseren Augen den Espresso. Der Duft durchströmt meine Nase. Ich bin versöhnlich gestimmt. Mit den Tassen in der Hand setzen wir uns langsam in Bewegung. Siegessicher lassen wir das Café hinter uns liegen, schlendern unserem Entschleunigungzielpunkt entgegen. Wir fühlen uns wie Helden und sitzen auf der warmen Steinmauer. Ich bewege meine Espressotasse zum Mund, schlürfe von diesem besonderen Elixier. Mein Blick schweift sanft über den ruhig vor uns liegenden Tejo, auf dem das glitzernde Sonnenlicht tanzt. Plötzlich ist alles anders. Ich bin ruhig. Fühle mich entschleunigt. Die Sonne küsst mein Gesicht. Der Espresso mundet meinem Gaumen. Der Moment gehört uns. Ich bin bewegt. Das macht mich glücklich.

Und immer wieder Schlangen und Linien
Wir stehen auf der Passagierliste. Sitzen im Wartesaal des Abflugbereiches. Unsere Koffer liegen im Flieger, das zumindest hoffe ich. Wir warten auf den Abflug. Hiesige Verhältnisse. Es läuft alles langsamer. Es tut sich ein Ruck und Menschen strömen nach draußen. Sie gehen so merkwürdig akkurat. Wir reihen uns ein, bewegen uns mit dem Strom. Ich staune. Wir gehen zwischen auf dem Boden aufgezeichneten Linien. Sie lenken unseren Schritt gemach in Richtung Gangway. Im Flieger sitzend blicke ich auf die Reihe hinab. Sie bewegt sich grazil und wie in Zeitlupe. Eine Glückswoge durchströmt meinen Körper. Ich bin ruhig und weiß: Hier lässt sich Entschleunigung einüben. Und noch eins weiß ich: Lisboa, wir kehren zurück, und zwar ganz schnell!

Von Diana Schmid
Diana Schmid arbeitet als Autorin, Herausgeberin und freie Redakteurin im Bereich von christlicher Lebenskunst und modernen Glaubensformen. Sie lebt und liebt den Sinn fürs kleine Glück im Alltag.
Für mehr inspirierende Alltagsgeschichten und Lebensfreude empfehlen wir das Buch: Lass deine Seele blühen © Verlag Herder