
Zeitsparen: ein gutes Geschäft?
Viele kennen die Geschichte „Momo“ von Michael Ende. In diesem klugen Märchen, das Erwachsenen genauso viel zu sagen hat wie Kindern, wird geschildert, wie „graue Herren“ unmerklich die Herrschaft in der Welt übernehmen. Diese Geschöpfe sehen aus wie Geschäftsleute, sind aber parasitäre Wesen, die ausschließlich von der Zeit der Menschen leben. Sie tauchen bei einzelnen Personen auf und überzeugen sie davon, wie viel ihrer kostbaren Lebenszeit sie doch mit sinnlosen Sachen vertun. Zum Beispiel Besuche bei einer alten Frau zu machen, nur weil sie sich darüber freut, einfach so spazieren zu gehen. Oder eine Clique alter Männer im Lokal zu dulden, die die schickere Kundschaft abschrecken und sowieso fast nichts trinken. Wenn ein „Kunde“ nach einiger Überzeugungsarbeit tatsächlich reumütig einsieht, wie viel seiner Lebenszeit er bisher sinnlos vertan hat, und einwilligt, ab jetzt Zeit sparen zu wollen, haben die grauen Herren schon gewonnen. Die Zeitsparkasse brauche keine schriftlichen Verträge, und man brauche sich nicht darum zu kümmern, was mit der eingesparten Zeit passiere, beteuern die „grauen Herren“ dann noch. Die gesparte Zeit lande schon automatisch bei ihnen. Und tatsächlich: Die „Kunden“ stellen erstaunt fest: Obwohl sie im Vergleich zu früher unglaublich viel Zeit sparen, ihr Leben durchrationalisieren und alles „Sinnlose“ abschaffen, bleibt nie das Geringste von der eingesparten Zeit übrig. Sie ist immer spurlos verschwunden. Natürlich hat die Geschichte ein Happy-End, sonst wäre sie kein gutes Märchen. In der Wirklichkeit kommt es leider oft nicht wie dort zu einer Rückverwandlung der gestressten Zeitsparer zu Menschen, die zufrieden sind und Zeit haben. Was aber auch in der Wirklichkeit gilt: Gesparte Zeit ist tatsächlich spurlos und ersatzlos weg. Eine Aktivität grenzt druckvoll an die andere, und nirgends taucht die viele, durch Effektivitätserhöhung eingesparte Zeit im Leben eines Menschen wieder auf.
Begrenzte Zeit
Wer einen Schritt zurücktritt und sein Leben aus größerem Abstand ansieht, merkt, dass die Zeit, die uns voraussichtlich zur Verfügung steht, durchaus begrenzt ist. Und dass viele Dinge, die ihm Freude machen, die ihm und anderen guttun würden, nie darin vorkommen werden, wenn er im jetzigen „effektiven“ Stil weitermacht. Wenn wir uns trauen, uns klarzumachen, dass wir einmal sterben müssen und nichts Materielles mitnehmen können, stellt sich die Frage danach ganz neu, was denn überhaupt Sinn macht vor diesem Hintergrund.
Beziehungen, die bleiben
Beziehungen, die vorher oft leichthin an die Seite geschoben wurden, um mehr zu schaffen, gewinnen auf einmal sehr an Gewicht. Wie schnell ist man gerade heutzutage die Begründung für alle Aufopferung und Hetze los: Wenn auf einmal der Job weg ist, die Kinder aus dem Haus gehen oder die zu pflegende Angehörige stirbt. Was bleibt denn, wenn nicht gute Beziehungen, die wir vorher aufgebaut haben?

In Bezug auf Zeitsparen haben wir als Familie vor gut einem Jahr eine unglaublich nutzlose Entscheidung getroffen: Wir haben uns einen Hund angeschafft. Nora, Berner Sennenhündin. Also auch noch ein 40-Kilogramm-Brocken. Sie hat wirklich keinen praktischen Nutzen, muss man ehrlicherweise zugeben. Stattdessen haben wir viel Zeit zum großen Teil vergeblich in ihre Erziehung gesteckt. Hinzu kommt noch, dass wir auch vorher schon eine wirklich vollbeschäftigte Familie waren.
Zeit für Unfug
Merkwürdigerweise kommt trotzdem jeder von uns mehrmals am Tag dazu, mal kurz, mal länger mit ihr herumzuknuddeln. Das ist aber nie geplant. Zum Beispiel wird jeder, der ins Haus zurückkehrt, erst mal ausführlich mit Anstupsen, Schwanzwedeln und Fiepsen begrüßt. Was wir Familienmitglieder unsererseits in diesen Szenen für Unfug verlautbaren, sollte besser nicht aufgenommen werden. Unter Effizienzgesichtspunkten ist es sowieso völliger Schwachsinn, überhaupt mit einem Hund zu reden. Aber der Begrüßte fühlt sich unverkennbar gut dabei. Ebenso haben wir bemerkt, dass diejenigen, die mit Nora einen Spaziergang gemacht haben, fast immer in deutlich besserer Laune zurückkommen, als sie sich vorher befanden. Obwohl sie ja gerade mindestens eine halbe Stunde ihrer kostbaren Zeit sinnlos verschwendet haben.
Eine kleine Zeitfee
Als meine Kinder neulich auf einer langen Autofahrt die Momo-Kassetten hörten, fiel ihnen auf, dass Nora eigentlich genau das Gegenteil von den „grauen Herren“ der Geschichte ist. Sie stiehlt nicht Zeit, sondern sie schenkt Zeit. Das schnell laufende Alltagsgetriebe steht sozusagen in ihrem Umfeld immer wieder mal eine Weile still. „Eine richtige kleine Zeitfee“, stellten wir gemeinsam fest.
Bitte missverstehen Sie mich jetzt aber nicht. Ich bin mir mit Ihnen sehr einig darin, dass menschliche Beziehungen natürlich viel wichtiger sind. Ebenso möchte ich keine Reklame für die Anschaffung eines Hundes machen. Dadurch dass uns diese Veränderung in der Familie aber alle gleichzeitig betraf, ließ sie sich so deutlich bemerken. Was ich an diesem Beispiel zeigen möchte: Es tut jedem Menschen gut, wenn seine rasende Zeit mal einen Moment stillstehen darf.

Martin Grabe: Zeitkrankheit Burnout. Warum Menschen ausbrennen und was man dagegen tun kann.
Martin Grabe ist Psychiater, Psychotherapeut und Chefarzt einer Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik.