Blindes Vertrauen

Sie wurden nicht blind geboren. Was ist geschehen?

Das fing 1976 während meines Studiums an. Damals war ich 22 Jahre alt. Ich wollte Lehrerin werden und merkte da schon, dass ich schlechter sehe. Meine Eltern sind darauf nicht wirklich eingegangen. Mein damaliger Freund und mittlerweile Ehemann sagte dann irgendwann zu mir: „Wir gehen jetzt in die Augenklinik.“ Da bekam ich die Diagnose „Netzhauterkrankung mit bevorstehender Erblindung“ – für mich ein totaler Schock. Meine Augen wurden dann auch immer schlechter, bis ich mit 44 Jahren gar nichts mehr sehen konnte.

Was ging in Ihnen vor, als Sie die Diagnose bekamen?

Das war eine schlimme Zeit. Ich fühlte mich mit meinen Fragen ziemlich alleingelassen. Wie lange kann ich noch sehen? Wer hilft mir dann? Wer steht zu mir? Bin ich für meine Eltern dann weniger wert? Und vor allem: Macht mein Leben noch einen Sinn? Ich hatte Angst und war total verzweifelt.

Von Zuhause bekam ich in dieser Zeit wenig Unterstützung. Meinen Eltern war Erfolg und Ansehen immer sehr wichtig. Probleme wurden bei uns entweder ignoriert oder mit Geld und Beziehungen gelöst. Die hohen Erwartungen, die an mich gestellt wurden, erfüllte ich sowieso nicht. Jetzt auch noch blind!

Aber mein Freund stand zu mir, und wir heirateten dann auch bald. Das hat mir in dieser schwierigen Zeit Halt gegeben. Mein Mann war und ist mir eine große Stütze.

Ihre Augen konnten Sie nicht mehr vertrauen. Wie war der Prozess, anderen Sinnen vertrauen zu lernen?

Da der Prozess des Erblindens bei mir sehr langsam ging, musste ich lernen, mich schrittweise an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Das fiel mir nicht leicht und ich habe lange dafür gebraucht. Ich war früher ein ängstlicher, unsicherer Mensch. Gerade am Anfang meiner Erkrankung war ich außerdem sehr unstrukturiert, da musste ich mich ziemlich umstellen. Heute habe ich ein gutes System und weiß, wo ich was hinlege, um es wiederzufinden.

Was hat Ihnen geholfen, mit der neuen Situation umzugehen?

Als meine Augen immer schlechter wurden, stieß ich irgendwann an meine Grenzen. Haushalt, kochen, die Kinder und das alles unter den erschwerten Bedingungen – ich habe es nicht mehr geschafft. Meine damals einzige Freundin lud mich in dieser Situation zu einer christlichen Veranstaltung ein, das war 1991. Ich bin da nur ihr zuliebe hingegangen, aber dort hat es mir dann doch gefallen. Die Vorträge waren sehr gut. Ich dachte mir: Das mit dem Glauben probierst du mal aus, auch wenn du vielleicht nicht dabeibleibst. Ich bin dann regelmäßig in eine Gesprächsgruppe gegangen und zu einer Seelsorgerin.

Ich hatte früher nie Selbstvertrauen. Gerade, weil in meinem Elternhaus Leistung immer total wichtig war und ich den Erwartungen eigentlich nie genügte. Für mich war es der absolute Durchbruch zu erkennen, dass Gott sagt: „Ich liebe dich. Du bist mein Kind. Ich habe gewollt, dass du lebst. Du musst dafür keine Leistung bringen.“ Das hat mein Leben komplett verändert.

Fiel es Ihnen schwer, an Gott zu glauben, während Ihr Augenlicht immer weniger wurde?

Natürlich stellt man sich Fragen: Warum lässt Gott zu, dass ich blind werde, wenn er doch das Beste für mich will? Als ich mir dann Zeit für Gott genommen habe, habe ich festgestellt, wie oft er mir schon geholfen hat. Wie viele Situationen es gab, die irgendwie gut ausgingen. Heute sage ich eher: Meine Augen sehen vielleicht nicht mehr. Aber dafür sieht mein Herz. Und egal was kommt, ich kann mich darauf verlassen, dass Gott bei mir ist.

Wie war bzw. ist das Leben mit Ihrer Sehbehinderung für Ihren Mann und Ihre Kinder?

Für meinen Mann bedeutete das schon eine Mehrbelastung, vor allem, als die Kinder noch klein waren. Als wir unsere Töchter bekamen, war ich schon stark sehbehindert. Das heißt, dass er mit den Mädchen zum Arzt gefahren ist. Er musste auf dem Spielplatz oder beim Spaziergang aufpassen, dass nichts passiert. Er musste viele Besorgungen machen. Das war manchmal ganz schön anstrengend.

Auch für die Mädchen war es nicht immer leicht. Vor allem meine älteste Tochter hat als kleines Kind sehr unter der Situation gelitten. Ich war oft ungeschickt, bin gegen sie gelaufen oder mit ihr auf dem Arm irgendwo angestoßen. Manchmal fing sie dann an zu weinen und hat „Böse Mama!“ gesagt, wenn ich ihr aus Versehen wieder einmal wehgetan hatte. Das hat mir immer so leidgetan. Umso dankbarer bin ich, das wir heute ein tolles Verhältnis haben. Ich bin sehr stolz auf meinen Mann und meine Kinder.
Die Situation ist ja für die Angehörigen generell nicht leicht: Ich bekomme immer die ganze Aufmerksamkeit und das Mitgefühl, während meine Familie auch belastet ist. Man kann sich die Aufgaben in der Familie ja nicht einfach so teilen. Wenn mein Mann und ich dann mal Zeit für uns haben und ich bei einem gemeinsamen Spazierganz stolpere, habe ich schon mal jemanden hinter uns gehört, der sagte: „Kann der Mann denn nicht besser auf seine Frau aufpassen?“ Da habe ich mich umgedreht und gesagt: „Nein, und das muss er auch gar nicht. Ich kann selbst laufen, und er möchte ja beim Spaziergang auch ein bisschen was von der Landschaft sehen.“ Mein Mann tut sehr viel für mich. Da würde ich mir schon wünschen, dass auch gesehen wird, was die Angehörigen leisten und welche Belastungen sie tragen.

Gerade deshalb finde ich es auch wichtig, gute Freunde zu haben, denen ich vertrauen kann. So muss ich nicht bei jeder Kleinigkeit meine Familie um Hilfe bitten. Das entlastet meine Angehörigen natürlich auch.

Sie können Mimik und Gestik nicht mehr wahrnehmen. Lässt sich das ausgleichen?

Wenn mein Mann von der Arbeit kommt, merke ich an der Art, wie er die Tür aufmacht, ob er einen guten oder schlechten Tag hatte. Ich höre auch an der Stimme, ob mein Gegenüber aufgeregt oder ruhig ist. Wie die Person spricht, ob sie lange nachdenken muss. Ich habe eine Seelsorgeausbildung gemacht, bei der man ja noch einmal anders mit Emotionen konfrontiert wird. Ich merke auch, wenn jemand weint. Die Emotionen des Gegenübers bekommt man mit.

Man weiß natürlich nicht, wie die Augen oder der ganze Mensch aussehen. Das kann aber auch ein Vorteil sein, weil man Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilt. Gleichzeitig bieten mir meine anderen Sinne so viele Möglichkeiten. Ich nehme Menschen anders wahr, vom Händedruck bis hin zur Körperhaltung.

Müssen Sie anderen Menschen mehr oder anders vertrauen als früher?

Ja, auf jeden Fall. Das fängt bei Kleinigkeiten an. Wenn ich mit Freunden unterwegs bin, wissen die, dass sie mich bei Unebenheiten im Boden warnen müssen. Das kann aber nicht jeder gleich gut. Mit einem meiner Freunde gehe ich deshalb nicht spazieren, da ist die Gefahr einfach zu groß, dass ich irgendwo gegen laufe oder über etwas stolpere. Eine andere Freundin macht das total gut. Sie sagt immer: „Du beachtest einfach, was Du gelernt hast, und ich schaue, dass kein Auto kommt.“ Da kann ich ganz anders agieren.

Es gibt aber auch manchmal ganz absurde Situationen. Ich habe es schon erlebt, dass ein Besucher den Stuhl nach dem Aufstehen nicht wieder an den Tisch herangeschoben hat, um zu sehen, ob ich das merke oder ob ich dagegenlaufe.

Ein anderes Mal stand ich an einer Straße und plötzlich packte mich jemand und zog mich auf die andere Seite. „Ich wollte doch gar nicht rüber“, habe ich gesagt. „Ach so!“, sagte die andere Person. „Ich dachte, sie wollten rüber.“

Es ist so wichtig, blinden Menschen mit dem gleichen Respekt zu begegnen, den man sich auch als Sehender wünscht. Blinde können da sehr empfindlich reagieren, wenn sie jemand einfach packt und irgendwohin zieht. Das würde ein Sehender ja auch nicht wollen. Besser ist es, immer nachzufragen: Kann ich Ihnen helfen? Und auch: Wie kann ich Ihnen helfen?

Hat sich Vertrauen auch mal nicht ausgezahlt? Haben Menschen Ihre Blindheit bewusst ausgenutzt?

Ja, das ist mir auch schon passiert. Ich bin beispielsweise um Wechselgeld betrogen worden. Wenn es um größere Beträge geht, gehe ich allerdings nicht alleine einkaufen. Da nehme ich immer Freunde oder meinen Mann mit.

Was hilft Ihnen, Ihre Mitmenschen als vertrauenswürdig bzw. nicht vertrauenswürdig einzustufen?

Ich muss Menschen mehrmals begegnen, dann kann ich sie ungefähr einschätzen. Bevor ich mich jemandem anvertraue, schaue ich schon: Wo ist das, was ich erzähle, in sicheren Händen? Ich habe Freunde, mit denen ich über Persönliches sprechen kann. Ich finde es da aber beispielsweise auch wichtig, dass sie offen und ehrlich sind und mich auch kritisieren dürfen.

Hat sich etwas an dem Vertrauen geändert, das andere Menschen in Sie haben? Wird Ihnen weniger zugetraut? Sind andere misstrauischer?

Ich habe gute Freunde, die trauen mir etliches zu. Und ich habe ja auch unter Beweis gestellt, dass ich vieles machen kann. Bügeln, waschen, kochen, backen, Briefe schreiben … Meine Haushaltshilfe kommt oft nur einmal pro Woche, den Rest der Zeit bin ich im selbst im Haushalt aktiv. Fremde Menschen trauen mir am Anfang vielleicht schon etwas weniger zu, aber wenn sie mich kennen, gewöhnen sie sich daran, dass ich alles mal ausprobiere.

Dazu kommt: Ich bin eine Person, die auf Menschen zugeht. Ich lächle, grüße, spreche an. Das macht auch viel aus, glaube ich.

Viele Blinde gehen nicht gerne raus. Man läuft auf der Straße, nimmt die Kurve falsch und läuft gegen eine Hauswand. Dann kommen schon auch Kommentare wie „Am frühen Morgen ist die schon betrunken …“ Oder im Wartezimmer beim Arzt, wenn ich nicht nach den Stühlen getastet habe und mich dann aus Versehen auf den Schoß von jemandem setze. Früher wäre mir das peinlich gewesen, heute mache ich eher einen Scherz und sage „Schon wieder jemand neues kennengelernt …“

Leben Sie jetzt in bestimmten Bereichen bewusster? Anders?

Ja, ich lebe sehr viel bewusster. Das hat viel mit meinem Glauben zu tun. Wenn ich heute durch einen Herbstwald gehe, freue ich mich über den Duft, die Sonnenstrahlen, die Geräusche. Und ich bin Gott so dankbar, dass ich das alles noch wahrnehmen kann. Dass es mir gutgeht und ich sonst gesund bin. Dankbar für meine Kinder, meinen Mann. Ich bin generell viel zufriedener geworden.

Wo brauchen Sie Hilfe? Wie wählen Sie beispielsweise farblich passende Kleidung aus? Welche Rolle spielt Ihre Familie dabei?

Für Kleidung habe ich ein System. Ich habe meine Pullover im Schrank farblich organisiert. Helle liegen oben, dunkle unten. Bei vielen Kleidungsstücken weiß ich, welche Farbe sie haben, weil ich sie anhand von Material oder Ausschnittform zuordnen kann. Außerdem habe ich ein Farberkennungsgerät. Wenn ich etwas kombinieren möchte, frage ich aber gerne meine Haushaltshilfe: Sie hat einen guten Geschmack und gibt mir dann beispielsweise Tipps für das passende Tuch zum Pullover.
Ich schminke mich auch selbst. In der Blindenschule wurde uns nahegelegt, wie wichtig das ist. Immer ein bisschen geschminkt, immer saubere Kleidung und gewaschene Haare. Denn es gibt leider immer noch vielerorts das Vorurteil, dass Behinderte dumm seien. Dem möchte ich bewusst entgegenarbeiten. Wenn ich einen Vortrag in einer Schule halte und dann zeige, wie ich mich als Blinde schminke, sind die Kinder immer total baff.

Wenn man blind ist, muss man ja generell alle Sinne einsetzen, um sich im Alltag zurechtzufinden. Und ich muss mir vieles merken. Was steht wo? Ich habe viele Telefonnummern im Kopf und auch sonst ein festes System. Ich backe beispielsweise gern. Meine Standard-Rezepte habe ich im Kopf, und ich habe eine sprechende Waage, die mir alles grammgenau abwiegt. Wenn es ein unbekanntes Rezept ist, lasse ich es mir vorlesen.

Aber nach einem langen Tag merke ich schon, wie anstrengend das ist, wenn man die ganze Zeit konzentriert und aufmerksam sein muss. Manchmal bin ich abends so müde, dass ich Schwierigkeiten habe, die Tür aus dem Wohnzimmer in den Flur zu finden.

Haben Sie noch andere Hobbies, die man erstmal nicht mit Blinden in Verbindung bringt?

Ich koche, bastle und schreibe auch gerne Briefe. Bei einigen Sachen brauche ich zwar ein wenig Hilfe, aber ich tue es gern. Ich mache vieles über den Tastsinn.

Jedes Jahr im November bastle ich beispielsweise Adventskalender, die ich dann verschenke. Ich überlege mir ein Thema, dann suche ich passende Postkarten und kleine Geschenke dazu aus. Die verpacke ich bunt und hänge sie in ein geflochtenes Seil.
Mit den vielen Basteleien habe ich aber erst als Blinde angefangen. Als Sehende war ich eher ein langweiliger Mensch. Aber Schenken und Basteln sind mein Fable. Da habe ich gemerkt, wie viel Kreativität, Planungsvermögen, Organisationstalent und Fähigkeiten mir Gott geschenkt hat. Um Namen zu merken, baue ich mir beispielsweise Eselsbrücken.

Ich kann noch normal schreiben und übe das immer, damit ich es nicht verlerne. Es ist zwar zeitaufwändig, und ich brauche 1 bis 2 Stunden für einen Brief. Erst spreche ich alles auf Kassette, und dann schreibe ich mit einer Briefmappe für Blinde alles auf. Aber das möchte ich auf keinen Fall verlernen, Briefeschreiben ist mir sehr wichtig.

Wie finden Sie sich draußen auf der Straße zurecht, haben Sie einen Blindenstock?

Ich habe einen Blindenstock. Ich habe es ohne versucht, aber irgendwann ging es nicht mehr. Ich bin dann für 3 Wochen zum Training in eine Blindenschule gegangen, das war 1991. Für die Kinder war die Zeit nicht einfach, sie waren damals 7 und 3 Jahre alt. Als ich dann mit dem langen, oben gekrümmten Stock zurückkam, fanden sie das erstmal komisch und hatten ein bisschen Angst. Ich habe dem Stock dann Johann genannt, damit die Kinder sich mit ihm anfreunden konnten. „Der Johann hilft uns, den Weg zu finden. Und der kann euch die Äste vom Apfelbaum runterziehen, damit ihr an die Äpfel kommt“, habe ich ihnen gesagt. Da fanden sie ihn dann gut und Johann war natürlich immer dabei.

Der Blindenstock ist aber auch ein bisschen Stigma: Wenn meine Familie mit mir in der Stadt unterwegs ist, bleiben die Menschen teilweise mit offenem Mund stehen und starren uns nach. Gerade für meine Töchter war das früher manchmal unangenehm.

Was raten sie anderen Menschen beim Thema Vertrauen?

Vertrauen ist eine Entscheidungssache. Und es ist ein Lernprozess. Man muss die Zeit arbeiten lassen.

Ich selbst habe Vertrauen erst durch meine Beziehung zu Gott, zu Jesus Christus gelernt. Ohne ihn kann ich es mir nicht vorstellen. Und ich habe gemerkt: Auch Gottvertrauen kann man einüben und wachsen lassen.