
Sehnsucht nach erfülltem Leben
Der jeweilige Moment ist so kostbar, wie uns das in den vielen Augenblicken unseres Lebens gar nicht immer bewusst ist. Wir wünschen uns etwas Anderes herbei, müssen warten, fühlen uns falsch verortet. Und doch sind das auch Momente unseres Lebens. Wenn wir uns sämtliche Momente wegwünschen würden, dann … doch das tun wir besser nicht. Zumindest nicht mehr, nachdem wir diesen Beitrag verinnerlicht haben.
Klar gibt es Momente, die wir nicht mögen: Eine Prüfung, den Zahnarzttermin, die nahende Projektabgabe. Und doch sind sie wichtig. Denn nachdem wir sie durchlebt haben, geht es uns besser. Die bestandene Prüfung dient als Eintrittskarte. Nach dem Zahnarzttermin sind wir meist schmerzfrei. Und wenn wir das Projekt gewuppt haben, beflügelt uns das und es riecht womöglich nach einer Beförderung. Im Nachhinein können sich zunächst unerfreuliche Momente als doch wichtig für uns erweisen. Dann gibt es Begebenheiten oder ganze Phasen, die wir ablehnen. Bisweilen geht das schon früh los. Wer hat nicht irgendwann mal die Schule satt? Man sehnt sich die Ausbildung herbei. Endlich Geld verdienen. Oder wir wollen so sehnsüchtig in eine andere Stadt umziehen.
Lebenszeit kommt nicht zurück
Dann kann man entweder die Zeit aussitzen und sich doppelt schlecht fühlen. Oder man kann trotzdem und erst recht etwas daraus machen. Denn das ist unsere kostbare Lebenszeit. Die bekommen wir nach solchen Phasen nicht nochmal aufs Lebenskonto gutschrieben. Als Bonus, weil wir nicht alles auskosten konnten. Weil die Umstände widrig waren. Nein, diese Zeit ist unwiederbringlich weg. Entweder haben wir etwas aus ihr gemacht. Oder wir haben nur geklagt, gelitten, uns die Zeit weggesehnt. Wenn uns unsere Lebenszeit nun doch von Gott geschenkt ist, dann ist sie unendlich wertvoll. Deswegen will ich hier die Geschichte von der alten Frau erzählen. Diese Geschichte begegnet einem immer mal wieder. Ich berichte sie hier aus meiner Erinnerung und in meinen eigenen Worten.

Nur eine Geschichte?
Es war einmal eine alte Frau. Früher war sie eine junge Frau gewesen, die voller Sehnsüchte steckte. Sie wollte das Leben erobern und später mal glücklich sein. In der Schule war sie deshalb immer sehr fleißig. Ihre Eltern waren streng, aus ihr sollte etwas Anständiges werden. Der Druck aus dem Elternhaus lastete auf ihr. Warum konnte sie nicht wie die anderen Jugendlichen vergnügt ausgehen? Die baldige Volljährigkeit würde sicherlich die Trendwende bringen. Sich nichts mehr sagen lassen müssen. Hach, wie wünschte sie sich ihre Ausbildung herbei. Endlich auf eigenen Beinen stehen. Das erste eigene Geld verdienen.
Ihre Ausbildungszeit begann. Sie war ganz baff, wie viel weniger Zeit ihr durch Arbeit und Berufsschule blieb. Zähne zusammenbeißen und durch. Sobald sie nur noch arbeiten müsste, würde sich das Glück schon einstellen. So fieberte sie mit einem selbst gebastelten Abreißstreifen aus Papier ihrem letzten Ausbildungstag entgegen. Mit dem letzten Abriss war auch der doppelte Aufriss endlich vorbei. Der Berufsalltag ging los. Am Anfang war das aufregend. Doch mit der Zeit wurde es monoton. Das Leben genießen – schon wieder funktionierte es nicht. Sie sehnte sich weit weg. Sobald der passende Partner an ihrer Seite sein würde, hätte sie ein schönes Leben. Ihren Traumprinzen malte sie sich in den schönsten Farben aus – und wurde umso trauriger, weil sie ihr Dasein bisweilen allein fristen musste. Wie wünschte sie sich ihr Alleinsein weg.
Es geschah. Sie lernte einen jungen Mann kennen. Der machte ihr so richtig den Hof. Schließlich heirateten die beiden. Nun musste man sich gemeinsam arrangieren im neuen kleinen Heim. Das war nicht immer einfach. Die Zeiten waren hart. Die beiden arbeiteten viel, um ihr Auskommen zu sichern. Als sich Nachwuchs ankündigte, war die Freude groß. Die Tage in der schnöden Firma waren gezählt. Der nächste Countdown wurde angeworfen. Endlich in Elternzeit gehen. Das Kind würde bald da sein. Der Himmel auf Erden.
Als der kleine Sohn schließlich auf die Welt kam, blieb kaum Zeit für irgendwas. Wie musste sie sich des Tags abrackern, war allein mit Kind und Haushalt. Jeden Tag sehnte sie sich das Heimkommen ihres Ehemannes am Abend herbei. Oft liefen die Begegnungen nicht so schön ab, wie sie sich das gewünscht hätte, weil ihr Mann den Kopf noch voller Arbeit hatte. Also blieb doch wieder alles an ihr hängen. Naja, wenn der Kleine erst mal aus dem Gröbsten raus sein würde … Doch dann mussten Hausaufgaben beaufsichtigt und Termine wahrgenommen werden. Wann nur würde endlich ihr Leben losgehen? Sie sehnte sich die Zeit herbei, in der ihr geliebter Sohn ausziehen würde. Dann würde die gute Zeit anbrechen.
Der Sohn blieb noch ziemlich lange bei seinen Eltern wohnen. Doch eines Tages war er ausgezogen. Im Haus wurde es dann sehr ruhig. Die Frau fühlte sich oft einsam und sehnte sich mit einem Mal die lebendigen Zeiten zurück. Sie überlegte, was passieren müsste, damit es endlich schön sein würde. Ganz gewiss würde die gemeinsame Rentenzeit mit ihrem Mann alles ändern. Doch als ihr Mann in den Ruhestand ging, wurde ihr ganzes System auf den Kopf gestellt. Ständig war jemand um sie herum, der auch noch überall seine Sachen herumliegen ließ. Wiederum konnte sie nicht glücklich sein, wie sie das wollte.
Da verstand sie: Man kann so lange nicht glücklich werden, solange man nicht den aktuellen Moment bejaht und etwas aus ihm macht. „Denn nun“, so sagte sie, „bin ich alt. Ich habe mein Leben verpasst, nicht gelebt. Ich wünschte, ich hätte jede Phase umarmt und durchlebt. Jetzt ist es dafür zu spät.“

Diese Geschichte hat mich sehr berührt. Ich mache durch diese Erkenntnis heute nicht automatisch alles richtig. Doch sie ist wie ein Weckruf, der immer wieder zu mir durchdringt. Wenn wir aufhören, uns mit Selbstmitleid zu übergießen, kann sich die Situation wandeln. Und wir uns mit ihr. So können wir uns immer wieder annähern ans kleine Glück, das durchaus zu einem größeren Glück anwachsen kann – wenn wir es nicht nur herbeisehnen, sondern auch erkennen und zulassen.
Wer schreibt hier?
Diana Schmid arbeitet als freie Journalistin und Autorin im Bereich von Glauben und christlichem Lebensglück. Sie liebt es, wenn sie mit ihren Beiträgen und Büchern andere bewegen, begeistern und berühren kann. Mehr von Diana Schmid gibt es unter schmid-text.de.