
Vom Loslassen und Festhalten
Sie haben sich intensiv mit dem Thema Sehnsucht beschäftigt – welche Rolle spielt Sehnsucht in ihrem Leben?
Wenn ich heute die Möglichkeit hätte, spontan an die Ostsee zu fahren, dann würde ich sicher laut „Juchhu“ rufen und umgehend meinen Koffer packen. Ich kenne manchmal ein Verlangen, an einem „Sehnsuchtsort“ zu sein. Sicher spielt Sehnsucht bei mir auch eine Rolle, weil ich an verschiedenen Wohnorten gelebt habe und dort liebe Freunde zurückgelassen habe. Die möchte ich natürlich ab und an treffen. Und nicht zuletzt hatte ich eine große, persönliche Sehnsuchtsgeschichte bedingt durch eine schwere chronische Erkrankung.
Sie haben seit Ihrem 21. Lebensjahr eine chronische Krankheit. Welche Sehnsüchte sind dadurch zerplatzt?
Im familiären Bereich gab es manches, was ich mir anders erträumt hatte: Gern hätte ich mit den Kindern Wochenendbesuche bei Freunden gemacht oder mehr Tagesausflüge unternommen. Das habe ich ihnen aufgrund meiner chronischen Schmerzerkrankung nur selten anbieten können. Vor allem aber hätte ich gern ein leichteres, unbelasteteres, leistungsfähigeres Leben geführt. Das war viele Jahrzehnte nicht möglich.
Kann man sich auch nach etwas sehnen, wo es eigentlich keine Hoffnung gibt?
Für unsere Sehnsüchte gibt es keine „Vorschriften“. Natürlich kann ich mich nach allem Möglichen sehnen. Ich selber bin ein sehr realistischer Mensch. Wenn ich spüre, dass es keine Hoffnung mehr gibt, dann würde ich mich lieber ans Loslassen heranwagen. Ich glaube, sonst verpufft meine Energie. Das wäre schade.
Inwiefern ist Ehrlichkeit sich und anderen gegenüber bei den eigenen Sehnsüchten wichtig?
Ich liebe mittlerweile „Bestandsaufnahmen“. Ich verstehe darunter den ehrlichen Blick aufs eigene Leben, um Sehnsüchte, Kräfte und Möglichkeiten realistisch einzuschätzen. Was will ich mit meinem Leben? Was kann ich leisten? Wie passt das jetzt zusammen? Ich wusste z. B., dass ich gern Autorin und Referentin werden möchte. Um das zu schaffen, gönne ich mir Unterstützung im Haushalt. Das schenkt mir seither Flügel für die Erfüllung meiner Sehnsucht.
Und anderen gegenüber? Wir als Paar wollten total gern nach Griechenland. Wir haben immer rumgesponnen, wie schön eine Kulturbusreise sein könnte. Irgendwann musste ich realistisch einschätzen, dass ich das gesundheitlich ja gar nicht packe. Wir sind daraufhin kreativ geworden und haben mittlerweile eine neue Idee ...
Haben Sie eine Erinnerung, nach der Sie sich zurücksehnen?
Mein Leben im Hier und Heute empfinde ich als so erfüllt und gut, dass ich gern im HEUTE lebe. Klar gibt es schöne Erinnerungen an tolle Augenblicke im Urlaub oder in erfüllenden Beziehungen. Solche Erinnerungen machen dankbar und fröhlich. In vielem erkenne ich auch, wie Gott mir dadurch Gutes getan hat. Aber zurück will ich nicht. Vielmehr trainiere ich das kleine Wörtchen „now“.
Sie halten u. a. Vorträge zum Thema „Weniger ist mehr“. Geht es dabei auch um den Umgang mit Sehnsüchten?
Na klar. Wobei ich glaube, wir sind da manchmal eher fremdgesteuert. Wir haben uns durch Werbung und Medien manche Sehnsüchte einreden lassen. Wir meinen, dass wir dieses und jenes brauchen, um wirklich glücklich zu sein. Ob es Technik ist, die neue Küche oder ein Ferienhaus am Meer. Manchmal erkennen wir dann, dass die erhoffte Erfüllung ausbleibt. Manche schränken sich bewusst ein, leben aber teilweise glücklicher als die, die „alles“ haben. Diese glücklichen Verzichter finde ich spannend.

In einem Buch schreiben Sie „Loslasser sind keine Verlierer“: Was bedeutet das, gerade auch in Bezug auf Sehnsüchte?
Loslassen klingt in den Ohren vieler nicht gerade erstrebenswert. Wir ahnen: Jetzt heißt es, ein Ding oder eine Person aufzugeben. Wir sind halt oft besser im Festhalten als im Loslassen. Ich bin der Meinung, dass Loslassen ein neues Glück schenkt. Das erfahren wir aber erst, wenn wir aktiv losgelassen haben. Was hätte es mir gebracht, weiter von meiner Busreise in Griechenland zu träumen? Besser ist loslassen und einen realistischen Wunsch entwickeln. Das funktioniert aber auch in den schmerzhafteren Lebensbereichen, z. B. wenn Eltern ihre Kinder beim Auszug loslassen. Der Traum vom Familienglück muss dann verabschiedet werden, aber ein neues gemeinsames Miteinander kann sich dafür entwickeln.
Sie beschreiben Loslassen als einen „lebenslangen Prozess des Freigebens“. Lässt sich das trainieren?
Ja, wir Menschen haben einen „Loslass-Muskel“, den kann man kräftigen, wie jeden anderen auch: Jemand eine Schuld erlassen? Ein wenig Loslassen trainiert. Mich nicht über mein Geld gesorgt? Einem Menschen Freiraum fürs Leben geschenkt? Loslassen trainiert. Ständig wächst mein Muskel. Wunderbar ist das.
Wir werden ja aus dieser Welt nichts mitnehmen können – keine Gegenstände, keine Erinnerung. Das einzige, was wir mitnehmen können, ist eine vertrauensvolle Beziehung zu Gott. Es ist also gut, wenn ich nicht erst mit 75 Lebensjahren anfange, endlich ins Loslassen zu kommen. Dann ist der Muskel völlig untrainiert und es wird sehr schwer fallen.
Gehen Sie anders als Ihr Mann mit dem Loslassen von Sehnsüchten um?
Das glaube ich schon. Mein Mann ist auf jeden Fall ein „Sammler“. Ich akzeptiere seine Krawatten- oder CD-Sammlung, weil ich ihn liebe. Aber ich selber ticke anders. Natürlich haben wir aber auch gemeinsame Sehnsüchte und wenn heute doch noch sein Anruf wegen dem Ostseewochenende kommt, dann bin ich sofort dabei. Fragen Sie ihn.
Kann Kreativität eine Antwort auf Sehnsüchte sein?
Das kann ich mir gut vorstellen. Wenn jemand Single ist und der Wunsch nach einer Partnerschaft bisher unerfüllt blieb, dann sind kreative Ideen gefragt: Welches Hobby erfüllt mich? Gibt es regelmäßige Treffen mit Freunden, die Gemeinschaft schenken? Gibt es eine Aufgabe, die ich übernehmen kann? All das sind kreative Prozesse, um unerfüllte Sehnsüchte umzumünzen.
Wo sehen Sie Parallelen zwischen einem notwendigen „Neu-Denken“ bei unerfüllten Sehnsüchten und der Pandemiesituation?
Die Pandemie lehrt jeden von uns, ins Loslassen hineinzufinden. Da sind wir alle herausgefordert. Es bedeutet, Feiern, Urlaube, Events loszulassen, teilweise sogar Arbeitsbedingungen, Verdienst, kirchliches Leben. Wir können jetzt unterschiedlich reagieren: Bedauern, schimpfen, aufbegehren, resignieren. Oder aber wir können kreativ werden. Das Beste aus dem Jetzt machen. Viele von uns müssen einzelne Lebensbereiche komplett neu erfinden. Das kann auch ungeahnte positive Dinge hervorbringen. Meine Kirche beispielsweise hat in wenigen Monaten gelernt, sich digital aufzustellen. Wir denken also Kirche neu. So können wir den Menschen immer noch Gutes anbieten, statt in Schockstarre abzuwarten.

Was ist für Sie ein positives Festhalten? Ein Festhalten, das auch zum Halt werden kann?
Wer nur loslässt, könnte die Angst bekommen, sich komplett zu verlieren. Wir Menschen brauchen auch Halt im Leben und im Sterben.
Für mich sind gute Beziehungen sehr wichtig. Wir können uns als Menschen schon sehr viel Halt und Unterstützung geben. Es stärkt uns als Paar z. B. total, wenn wir mit guten Freunden telefonieren. Da können es dann schon mal zwei Stunden werden. Hinterher sind wir erfrischt, haben vielleicht Anregungen bekommen oder Mut für die aktuelle Lage. Das ist wunderbar.
Darüber hinaus empfinde ich für mein Leben überaus positiven Halt durch meine Beziehung zu Jesus Christus. Die ist nun schon ein paar Jährchen alt. Und sie hat sich immer mehr vertieft. Ich erlebe dadurch eine tragende Geborgenheit, die mit nichts anderem zu vergleichen ist.
Vielen herzlichen Dank für das Interview!
Das hilft beim Loslassen – 14 praktische Tipps für Körper, Seele und Geist
- Am wichtigsten: Vertrauen haben, dass etwas Gutes entsteht
- Überlegen, was mich befreien könnte
- Idealvorstellungen loslassen und einen realistischeren Blick gewinnen
- Gewinnzonen durchdenken: Das „Was-geht-noch“ herausfinden
- Austausch mit anderen in ähnlichen Situationen suchen
- Bereit sein, Leere auszuhalten
- Den „Loslass-Muskel“ trainieren
- Geduldig mit sich selbst bleiben
- Sich Zeit zum Trauern und Klagen nehmen
- Mit Wellenbewegung (auf und ab) rechnen
- In „Loslasszeiten“ gut für die eigene Seele sorgen
- Sich eventuell professionell unterstützen lassen
- Bereit werden zu akzeptieren, dass eine gewisse Gebrochenheit erhalten bleiben kann, wenn das Loslassen zu schweren Narben im Leben geführt hat
- Ewige Hoffnung annehmen und festhalten
- Videotipp: https://www.youtube.com/watch?v=e5xA9eb-fWI&t=1s Lesung „Vom Glück des Loslassens“
Mehr über Kerstin Wendel https://kerstinwendel.wixsite.com/start

Buchtipp
Vom Glück des Loslassens - Wie Herz und Leben leicht werden, Kerstin Wendel, Ulrich Wendel