Wenn Reize reizen

Zum ersten Mal beschrieben wurde das Phänomen 1996 von der US-amerikanischen Psychologin Elaine Aron. Hochsensibilität ist keine Krankheit, sondern eine psychologische und neurophysiologische Ausprägung, die sich bei etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung findet. Mit der Expertin und Autorin Brigitte Küster (ehemals Schorr) sprach Bernhard Limberg, der sich selbst als hochsensibel beschreibt. Gemeinsam beleuchten sie, wie wichtig Selbstfürsorge und Kommunikation in diesem Zusammenhang sind.

Das Thema „Hochsensibilität“ begegnet einem immer öfter. Der bekannte Neurowissenschaftler Gerald Hüther ist der Meinung, dass die Eigenschaften in einer Gesellschaft immer dann sichtbar werden, wenn die Gesellschaft diese benötigt. Ist heute mehr Sensibilität gefragt?

Erhöhte Sensibilität erfährt seit ein paar Jahren einen Hype in unserer Gesellschaft. Das liegt unter anderem daran, dass wir mehr Leistung in immer kürzerer Zeit erbringen müssen. Es bleibt immer weniger Zeit, sich zu entwickeln. Darauf reagieren besonders stark hochsensible Menschen. Sie merken, da können und wollen sie nicht mehr mit. Gleichzeitig spielt für immer mehr Menschen ein aufmerksamer, feinfühliger Umgang eine immer wichtigere Rolle. Deshalb ist Sensibilität stark gefordert, nicht im Sinne einer Empfindlichkeit, sondern im Sinne einer Aufmerksamkeit und eines feinfühligen Verhaltens.

Haben Hochsensible dann heutzutage mehr Chancen, gehört zu werden?

Sie haben dann Chancen, wenn es ihnen gelingt selbstbewusst hochsensibel zu sein. Daher ist es ganz wichtig, Hochsensibilität im Kindesalter zu erkennen und wertzuschätzen. Hochsensibilität als Wert zu etablieren, würde der Gesellschaft mittel- und langfristig sicherlich gut tun.

Welches Pfund können Hochsensible in die Gesellschaft einbringen?

Vor allem ihre Feinfühligkeit: Sie können Entwicklungen gut wahrnehmen und beurteilen, wie etwas auf andere wirkt, welche Konsequenzen bestimmte Entscheidungen haben. Hochsensible haben durch ihr vernetztes Denken meist einen guten Blick auf das Wesentliche und streben eher Win-Win-Situationen an. Dadurch können sie in Gruppen ausgleichend wirken, wie in Parteien oder Vereinen. Hochsensible sind auch sehr kreativ und engagiert. Sie tun der Gesellschaft gut. Doch die Voraussetzung für das alles ist, dass sie nicht überstimuliert sind, sondern sich in einem ausgeglichenen Zustand befinden.

Dass ich etwas ungewöhnlich bin, merkte ich u.a. daran, dass ich roch, wenn meine Kollegin vier Büros weiter sich die Hände eingecremt hatte. Rührt meine Kollegin zu lange den Kaffee mit einem Löffel um, geht mein Puls hoch und ich kann mich auf nichts mehr konzentrieren. Was stimmt nicht mit mir?

Wichtig ist, zu verstehen, dass die erhöhte Erregbarkeit eine Spielart des Lebens ist. Hochsensibilität ist ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal wie viele andere auch. Es ist also „normal“, dass man sich selbst wie auch die anderen einen als „anders“ oder „besonders“ wahrnehmen. Hochsensible sollten deshalb eine große Toleranz gegenüber der Wahrnehmungsfähigkeit ihres Umfelds entwickeln. Das Heil liegt im Zusammenspiel. Hochsensible sind Angehörige einer Minderheit. Deshalb ist wichtig ist, dass sich Hochsensible aus ganzem Herzen akzeptieren können und dass eine solche Veranlagung weder gut noch schlecht ist.

Ich habe gelesen, dass traumatische Erfahrungen dafür sorgen können, eine hohe Sensibilität gegenüber Stimmungen zu entwickeln.

Traumatische Gewalt- und Suchterfahrungen können etwas ausbilden, was wie Hochsensibilität aussieht. Oft handelt es sich aber um eine erhöhte Sensitivität, die als Kennzeichen einer psychischen Störung einzuordnen ist. Da gilt es zu unterscheiden und ggf. eine ärztliche Behandlung aufzusuchen.

Sprechen wir aber von einer angeborenen Veranlagung, dann muss sich das bereits im Kindesalter wie durch eine höhere Sensibilität gezeigt haben. Es wird viel zu viel in einen Topf geworfen, was nicht zusammengehört. Auf einmal sind alle hochsensibel. Natürlich hat jeder Mensch ein Maß an Sensibilität zur Verfügung. Aber hochsensibel zu sein, ist dann etwas Anderes. Das ist wie ein inneres Radio, das immer auf voller Lautstärke sendet.

Ich nehme bei mir auch ein besonderes Gespür für Stimmungen war. Ich merke schnell, wenn mein Gegenüber etwas auf dem Herzen hat.

Das ist ein gesundes Maß an Hochsensibilität, das nicht trotz, sondern wegen dieser Veranlagung entstanden ist. Aber die Gefahr besteht, diese Fähigkeiten manipulativ einzusetzen. Es gibt eben keine Medaille ohne zwei Seiten. Hochsensibilität ist ein neutraler Wesenszug und nur ein Teil der Persönlichkeit. Wichtig ist, die im Laufe des Lebens gemachten positiven Erfahrungen der Hochsensibilität in den Vordergrund zu stellen, um zum Segen für sich und andere zu werden.

Ich habe gelernt: Wenn alles zu viel wird, hilft nur Rückzug. Für Außenstehende wirkt das oft brüskierend, egoistisch, launisch. Wie bekomme ich das hin, ohne Irritationen auszulösen?

Wenn ein Hochsensibler so hart reagieren muss, dann ist das bereits das Ende der Fahnenstange. Manchmal geht man überstimuliert in den Tag - dann ist alles an diesem Tag zu viel. Das ist wie ein Notfallprogramm des Körpers. Dieser sammelt wie ein Autopilot Reiz für Reiz ein und baut sie aber in der gleichen Weise nicht mehr ab. Dann haben Hochsensible keine andere Möglichkeit, als Türen zuzuschlagen oder sich zurückzuziehen. An anderen Tagen verträgt man mehr. Hochsensible müssen lernen auf die Frühwarnsignale zu achten und sich zu fragen: Wann komme ich in eine Anspannung und wie kann ich diese lösen?

Für mich war es besonders schlimm, wenn ungemeldeter Besuch kam. Das war für mich übergriffig, da ich gezwungen war, mich mit dieser Person auseinandersetzen.

Bei mir kommen niemals unangemeldete Besucher! Alle Leute in meinem Leben wissen das. Wichtig ist, das klar zu kommunizieren. Da kann man sagen: „Ich habe gern Kontakt mit dir, aber es überfordert mich gerade. Lass uns einen Termin in den nächsten Tagen finden.“ Beziehungen können sich dadurch ändern, da nicht jeder damit umgehen kann. Aber ehrlich zu sich und anderen zu sein ist eine großartige Sache. Damit sage ich dem Anderen: Du bist mir wichtig, aber ich muss auch meiner Veranlagung Rechnung tragen.

Wie können Normal- und Hochsensible gut miteinander auskommen?

Ich vergleiche das mit zwei Inseln. Beide Inseln haben eine eigene Art von Vegetation, Tierleben oder Kultur. Man kann sich gegenseitig besuchen und kennenlernen. Wie bei einem Urlaub in einem fremden Land. Ich werde aber nie zu der anderen Insel gehören, als wäre ich dort geboren und aufgewachsen. Hilfreich sind Brücken zwischen beiden Inseln, die man mit Kommunikation, gegenseitigem Verständnis, viel Selbstfürsorge und auch Humor errichten kann. Beide Seiten sollten tolerant miteinander umgehen und erkennen, dass es eine andere Wahrnehmungsfähigkeit als die eigene gibt. Hochsensible müssen ihr Leben passend einrichten, dafür ist ein gutes Selbstmanagement nötig.

In einem Ihrer Bücher widmen Sie sich der (Ehe)Partnerschaft von Normal- und Hochsensiblen. Wie gelingt unter diesen Voraussetzungen eine tragfähige Beziehung?

Auch für die Partnerschaft gilt: Man kann den Bewohner der anderen Insel nicht zum Bewohner der eigenen Insel machen. Wichtig sind auch hier viel Kommunikation und gegenseitiges Verständnis. Und den Fokus auf das Positive der anderen Wesensart richten. Der Normalsensible wird eher ein Macher sein, der Hochsensible kann das differenzierte Wahrnehmen in die Beziehung einbringen. Die Partner sollten sich gegenseitig viel Freiheiten lassen zur Gestaltung der eigenen Wesensart. So soll derjenige, der mehr als der andere unternehmen möchte, das auch mal allein machen können. Der andere hat dann Gelegenheit, das zu tun, was ihm gefällt und dabei zu regenerieren. Wer sich selbst und seine Bedürfnisse und Grenzen gut kennt, kann leichter eine erfüllte Partnerschaft leben.

Sie haben sich auch mit hochsensiblen Müttern beschäftigt.

Das ist mein Herzensbuch. Erst als ich Mutter wurde, merkte ich, dass ich hochsensibel bin. Ich habe mich über lange Strecken überfordert gefühlt. Die Erfahrung, 24/7 für ein kleines Wesen verantwortlich zu sein, was praktisch hilflos ist, das ist eine Quelle der Überstimulation per se. Junge Mütter sollten sich früh damit beschäftigen, ob sie möglicherweise hochsensibel sind, damit sie sich nicht ständig überfordert fühlen. Hilfreich ist, sich frühzeitig ein Netzwerk an Hilfsmöglichkeiten aufzubauen. So viel Unterstützung wie möglich annehmen. Es reicht manchmal schon, wenn man stundenweise sein Kind in der Kita oder bei den Großeltern abgeben kann. Wichtig ist, kreativ zu sein und zu handeln, damit man nicht in dieses „Erleiden“ kommt. Das ist kein Versagen, sondern eine Notwendigkeit für die eigene Gesundheit.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Mehr Informationen rund um die Hochsensibilität und einen sehr empfehlenswerten Podcast gibt es unter: https://einfach-hochsensibel.de

Brigitte Schorr, Hochsensible Mütter sowie Hochsensible in der Partnerschaft

Brigitte Küster (ehemals Schorr) ist psychologische Beraterin, Erwachsenenbildnerin, Traumatherapeutin und Autorin. Sie ist Gründerin und Leiterin des Instituts für Hochsensibilität, hält Vorträge und Workshops zum Thema und bietet Unterstützung für hochsensible Menschen an. www.ifhs.ch und  www.brigitte-kuester.com