
Das Schöne sehen – eine Übung
Als ich die U-Bahn betrat, stand sie schon da: eine Papiertüte aus dem Biomarkt. Sie saß mutterseelenallein auf der Sitzreihe. Kokosmilch und eine Suppe konnte ich erspähen.
Kurz nach mir betritt eine obdachlose Frau die U-Bahn. Sie verkauft die Obdachlosenzeitung und bittet um Spenden. Ich zeige ihr die Tüte mit den Worten: „Die hat jemand vergessen. Nehmen Sie die doch mit.“ Mehrfach fragt sie, ob das wohl ok sei. Eine andere Frau und ich ermutigen sie. Der Einkäufer war nicht mehr im Wagen und die Lebensmittel würden bei der nächsten Reinigung sicherlich weggeworfen werden.
Als ich aussteige, steht die obdachlose Frau mit strahlendem Gesicht neben mir: „So was Gesundes habe ich schon lange nicht mehr gegessen.“ Alles an ihr zeigt, wie glücklich sie ist.
Ich frage mich, wie die Person, die die Tüte vergessen hat, sich wohl gefühlt hat. Vermutlich hat sie sich über sich selbst geärgert. Wie konnte ich nur so dumm sein. Oder in Selbstmitleid gedacht: Immer muss mir so etwas passieren. Sie ist vermutlich nicht auf den Gedanken gekommen, dass ihr Versehen einen schönen Moment in das Leben eines anderen Menschen gebracht hat.
Negativ-Szenarien
Wir neigen alle dazu, uns zu ärgern, wenn uns Missgeschicke passieren oder Dinge nicht klappen. Hier einige Beispiele:
- Da ist uns der Bus vor der Nase weggefahren – ich werde zu spät kommen, das macht schlechten Eindruck.
- Die Strumpfhose bekommt auf dem Weg zum Vortrag eine Laufmasche – die Leute denken, ich bin schlampig.
- der Schoko-Lieblingsjoghurt ist ausverkauft – immer habe ich Pech!
- die tolle Jeans gibt es nicht mehr in unserer Größe – ich habe nichts Schönes zu Anziehen.
Wer automatisch davon ausgeht, dass Missgeschicke negative Auswirkungen haben, wird insgesamt unglücklicher durchs Leben gehen und sich häufiger als Opfer fühlen. Es wird ihm oder ihr schwerer fallen, Gott und dem Leben zu vertrauen.

Positiv-Szenarien
Wer versucht, positiv durch das Leben zu gehen, könnte sich auch vorstellen, dass die eben genannten Szenarien – zumindest vielleicht – auch total schöne Auswirkungen haben könnten:
Vielleicht…
- … ist der nächste Bus nicht so überfüllt.
- …gebe ich jemanden die Chance, mir mit der Laufmasche zu helfen.
- …tut es mir gut, mal einen anderen Joghurt auszuprobieren, um nicht zu eingefahren zu sein.
- … ist es sinnvoll, erst meinen Kleiderschrank auszumisten, bevor ich mir neue Klamotten kaufe.
Die Realität?!
Die Realität ist: Wir können in der Regel nicht wissen, wie genau sich unser Handel auswirkt. Der Lebensmittel-Einkäufer wird nie erfahren, dass seine vergessene Tüte einen anderen Menschen beglückt hat.
Nur selten erfahren wir, dass etwas vermeintlich Negatives eine schöne Auswirkung hatte. Etwa, dass eine Freundin sich freut, mit farblosen Nagellack die Laufmasche zu stoppen und so ein kleines Stück Verbindung zwischen zwei Menschen geschah.
Oder wie in der Geschichte von Josef in der Bibel, der von seinen Brüdern in die Sklaverei verkauft wurde. Am Ende führte genau dies jedoch dazu, dass er seiner Familie und einem ganzen Volk in einer Hungersnot das Leben retten konnte (1. Mose 37).
Oder auch wie bei Antonis Mavropoulos, der kürzlich einen Flug verpasste, weil er zwei Minuten zu spät am Gate war. Natürlich ärgerte er sich. Doch nur so lange, bis er erfuhr: Die Maschine Boeing 737 Max 8, mit der er eigentlich hätte fliegen wollen, war abgestürzt.
In den meisten Fällen erfahren wir die schönen Wendungen niemals. Doch natürlich gibt es diese Fälle auch!
Das Schöne für denkbar halten – eine Übung
Das Schöne in Gedanken zuzulassen, ist kein Selbstbetrug, aber eine herausfordernde Übung! Schließlich können wir in der Regel tatsächlich nicht wissen, wie sich etwas auswirkt. Wenn wir uns darin üben, das möglicherweise Schöne auch zu denken, halten wir unser Gehirn flexibel und schützen uns davor, in unserem Denken engstirnig und eingefahren zu werden.
Außerdem senden wir neben den Stresshormonen auch einige Glückshormone aus, die unseren Körper und unserer Seele gut tun. Das sorgt für eine entspanntere Sicht auf die Welt und für bessere Gesundheit. Schon dafür lohnt es sich.
Wer schreibt hier:
Kerstin Hack ist Autorin, Lebenswortschöpferin und Coach. Im Jahr 2000 gründete sie den Verlag und die Beratungsfirma „Down to Earth“. Sie lebt in Berlin auf einem Ex-DDR-Marineschiff, das sie gemeinsam mit Freunden zu einem Haus- und Seminarboot umgebaut hat. Mehr unter www.kerstinhack.de.